"Tygodnik Powszechny" Nr. 8/2004, Seiten 1 und 5
(Übersetzung aus dem Polnischen)

Die zwölf Aktenordner
der Gabriele Lesser

von Tomasz Potkaj

Ende Februar wird vor dem Hamburger Landgericht ein Präzedenzfall verhandelt: Der Bund der Vertriebenen (BdV) und seine Präsidentin haben eine in Warschau lebende Korrespondentin verklagt, die in ihren in Deutschland publizierten Artikeln das in Berlin geplante "Zentrum gegen Vertreibungen" und den destruktiven Einfluss Erika Steinbachs auf deutsch-polnische Beziehungen kritisiert hatte.

Akribisch legt Gabriele Lesser für jedes Thema, mit dem sie sich beschäftigt eine Hängemappe an. Die Mappen sind alphabetisch und nach Sachgruppen geordnet: "Patriotismus", "Stereotypen" und "Traditionen" hängen ebenso hintereinander wie politische Parteien "Solidarność" und "Samoobrona", oder Andrzej Wajda und Lech Walesa. Diese Ordnungsliebe ist ihr aus dem Geschichtsstudium geblieben. "Ein gutes Archiv ist das Alpha und Omega der Arbeit eines Historikers oder Journalisten", ist sie überzeugt, "Da gibt es keinen Unterschied".
Besonders umfangreich ist das Thema "Vertreibung". Es hat längst keinen Platz mehr in den Hängeordnern. Und so stehen zwölf gelbe, prall gefüllte Aktenordner auf dem Fußboden ihrer Warschauer Wohnung. In diesen Ordnern findet sich auch ein Dossier zum Bund der Vertriebenen (BdV) und seiner Präsidentin Erika Steinbach. Wegen eines dieser Steinbach-Zitate wird Gabriele Lesser Ende Februar in Hamburg vor Gericht stehen.
Obwohl das Gericht ein deutsches ist, so ist die Sache, um die es geht, doch ganz und gar polnisch. Und dies nicht nur deshalb, weil der Kommentar mit diesem Zitat in Warschau abgeschickt wurde.

Ein merkwürdiges Land inmitten Europas

Oktober 1985, kurz vor dem Wintersemester. Die junge Deutsche, eine Stipendiatin an der Geschichtsfakultät der Jagiellonen-Universität, war gerade in Krakau eingetroffen. Sie wollte so viel wie möglich über dieses merkwürdige Land in der Mitte Europas erfahren. Auf dem Krakauer Hauptmarkt stehend, baute sie in Gedanken einen polnischen Satz, wählte die richtige grammatische Form, und erst dann fragte sie. "Alle haben mich verstanden, das war eine Freude! Aber dann antworteten sie in einem Tempo, dass ich wie ein Esel dastand und gar nichts verstand".

Das waren die ersten Tage in einem fremden Land. Aber es gab noch ein zweites Problem: jede zweite Antwort war: "Ich weiß nicht". Lesser: "Ich konnte einfach nicht begreifen, dass so viele Leute so wenig wissen konnten. Im Stillen begann ich zu argwöhnen, dass diese Krakauer vielleicht ganz einfach ein bisschen dumm waren...?".

Sie hatte sich auf die Reise hinter den Eisernen Vorhang gut vorbereitet. Shampoo solle sie mitnehmen, hatte man ihr gesagt, Toilettenpapier und Gummistöpsel fürs Waschbecken. Außerdem solle sie sich nicht wundern, dass die Regale in den Läden leer seien und man Lebensmittelkarten brauche, wenn man Fleisch kaufen wolle. Lesser: "Aber als ich in Krakau zum ersten Mal mit der Straßenbahn fuhr, sah ich, dass die Leute gewaschene Haare hatten, obwohl es in den Läden tatsächlich kein Shampoo zu kaufen gab. Wie machen die das bloß, wunderte ich mich".

Polen war ein Land voller Paradoxe, stellte sie mit der Zeit fest. Dass sie einmal für länger hier leben könnte, hätte sie damals nicht für möglich gehalten. Im Gegenteil: "Warum verlassen die Polen nicht massenhaft dieses Land in Richtung Westen?", fragte sie sich damals. "Immerhin war Krakau schmutzig und die Luft so schwefelhaltig, dass man kaum atmen konnte".
Im Studentenheim lernte sie junge Polen kennen, die das jährlich stattfindende Studentenkabarettfestival PaKA vorbereiteten. Mit ihnen fuhr sie durch das Land, zu allen Universitätsstädten, in denen es Kabarettgruppen gab. "Alle hielten sich den Bauch vor Lachen, nur ich verstand keinen einzigen der politischen Witze". Geduldig erklärten ihr die Kommilitonen die politischen und historischen Hintergründe. Sie gaben ihr Bücher zum Lesen, ohne dessen Lektüre ein Ausländer weder den polnischen Humor, noch die Geschichte oder Gegenwart Polens verstehen könne. "Sie brachten mir das Zwischen-den-Zeilen-Lesen bei", erzählt sie, "Und zeigten mir Kabaretttexte vor und nach der Zensur. Als ich dann zum ersten Mal mitlachte, wusste ich, dass ich die Chance hatte, Land und Leute eines Tages zu verstehen".

Während ihres ersten knapp einjährigen Aufenthaltes in Polen sammelte sie Material für ihre Magister-Arbeit über die Untergrunduniversität in Krakau im Zweiten Weltkrieg. 1990 erhielt sie für das Buch "Leben als ob" den renommierten Fritz-Theodor-Epstein-Preis des Verbandes der Osteuropa-Historiker.

Kurz darauf kam die junge Frau erneut mit einem Stipendium für ein Jahr nach Krakau und Warschau. Danach fuhr sie weiter, nach Israel und England. Lesser: "Ich habe ein völlig anderes Polen vorgefunden, als das aus den früheren Jahren, und Menschen die sagten: Was haben wir von der Freiheit, wenn wir keine Arbeit haben?".

Damals, Anfang der 90-er Jahre, kam Gabriele Lesser wegen Hans Frank, dem "Generalgouverneur" im besetzten Polen, der nach dem Krieg hingerichtet wurde. Sie wollte ihre Dissertation über die Karriere eines Nazi-Funktionärs in Polen schreiben.

Rückkehr in die Gegenwart

Zurück in Deutschland, nahm sie die Lehrveranstaltungen an der Universität Köln zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges in Polen wieder auf. Sie setzte den Studenten die deutsche und sowjetische Besatzung Polens auseinander, die Geschichte der Ghettos und KZs, und schrieb die Biographie Hans Franks.
Sie erinnert sich: "Da ich ein lebendiges Buch schreiben wollte, eines, das beim Leser Bilder hervorrufen würde, ein >Kino im Kopf< also, musste ich zunächst die Geschichte wieder zum Leben erwecken. Ich musste wissen, wie die Leute damals sprachen, wie sie sich bewegten und kleideten. Was sie lasen, und welche Nachrichten aus der Welt bei ihnen ankamen. Ich sah mir alle alten Filmchroniken aus dem Reich und dem Generalgouvernement an, alle Dokumentarfílme, die ich finden konnte. Stundenlang hörte ich mir Radiosendungen aus jener Zeit an".

Eines Tages stellte sie entsetzt fest, dass sie Gegenwart und Vergangenheit nicht mehr richtig auseinanderhalten konnte. Dass sich die Zeit-Grenzen verwischten und sie mehr über das Jahr 1942 wusste, als über das gerade laufende.

Sie begann für den Rundfunk zu arbeiten, das schnellste von allen Medien. "Das war so eine Art Autotherapie", erinnert sie sich, "Ich beschleunigte ganz bewusst mein Leben, musste ich doch über das, was heute geschah, auch heute berichten, nicht erst 50 Jahre später. Ich war gezwungen, mich auf die Gegenwart zu konzentrieren, so dass der Zweite Weltkrieg dann auch tatsächlich in den Hintergrund rückte".

Zunächst sollte die Pause drei Monate dauern. Aber die Albträume hörten nicht auf. "Irgendwann wurde mir klar, dass ich nicht in Deutschland bleiben kann. Dass ich wegfahren muss". Bücher und Notizen über Hans Frank wanderten aufs Regal. Einige Monate später bot ihr die "Tageszeitung" (taz) in Berlin an, für sie als Korrespondentin nach Warschau zu gehen.
Die dritte Polenreise erwies sich als die längste. Sie dauert bis heute. Gabriele Lesser verkaufte ihre alten Möbel in Köln und zog nach Polen um. Ende 1995 kam sie in Warschau an – mit 88 großen Bücherkisten.

Zunächst hatte sie erst einmal Pech: Nach einem Zeckenbiss landete sie mit einer schweren Hirnhautentzündung im Krankenhaus. Ärzte bekamen die Krankheit nicht in den Griff, so dass die Entzündung auf die Augen- und Hörnerven übergriff, ja sogar auf den Gleichgewichtssinn. Am Ende saß sie im Rollstuhl, sah und hörte kaum noch etwas.

Der Genesungsprozess zog sich über Jahre hin. Sie lebte weiterhin in Warschau, fuhr zwischendurch aber immer wieder nach Berlin zur Behandlung. Mit der Hilfe von drei Studenten, die ihr Zeitungen vorlasen und Interviews für sie führten, schrieb sie ihre Korrespondentenberichte aus Polen. "Es hat damals wohl kaum ein Leser meiner Berichte bemerkt, dass die Autorin fast nichts sah und hörte", erinnert sie sich, "Ich bin der >taz< bis heute dafür dankbar, dass sie mich damals nicht im Stich gelassen haben".

Heute schreibt sie nicht nur für die "taz", sondern auch für eine Reihe Regionalblätter und ein halbes Dutzend jüdischer Zeitschriften. Sie berichtet über die große Politik in Polen, wie auch den kleinen Mann (und Frau) auf der Straße und deren Probleme im Alltag, über Zwergschulen auf dem Lande, Bergleute in Oberschlesien, über ökologische Landwirtschaft in Masuren. Einen besonderen Schwerpunkt in ihrer Berichterstattung nimmt der Wandel der polnischen Mentalität in den letzten Jahren ein.

Dabei spart sie nicht mit Kritik an uns. Sie geht heikle Themen an, wie z.B. die innenpolnische Diskussion über den Mord an den Juden von Jedwabne im Juli 1941, oder den Einsatz polnischer Soldaten im Irak. Es kommt auch vor, dass polnische Fachkollegen und sogar Politiker ihren Ansichten widersprechen und dies mit ihr offen diskutieren.
Gabriele Lesser verfolgt auch die deutsch-polnischen Beziehungen. Als Erika Steinbach, CDU-Abgeordnete und seit Mai 1998 Präsidentin des BdV, mit der Idee auftrat, in Berlin ein "Zentrum gegen Vertreibungen" einzurichten, begann ihr Name häufiger in den Berichten der Warschauer Korrespondenten aufzutauen. Auch in denen von Gabriele Lesser.

Die Flugzeuge der Erika Steinbach

Die erste Idee Erika Steinbachs im September 1998 war der so genannte "Berliner Appell". Darin stellte die neue BdV-Präsidentin Bedingungen für Polen und Tschechien auf, die diese zu erfüllen hätten, wenn sie der Europäischen Union beitreten wollten. Es tauchten Worte auf wie "Entschädigung" für die Vertriebenen und "Rückkehr" der Vertriebenen und ihrer Nachkommen in die einstige Heimat.

Ein Jahr später, nach dem Kosovo-Krieg und den zahlreichen Bildern der von Milosevic vertriebenen Albaner, begannen sich die Deutschen zunehmend an die eigene Vertreibung nach 1945 zu erinnern.
In dieser Zeit forderte Erika Steinbach in der "Süddeutschen Zeitung" die Regierungen Deutschlands und anderer EU-Staaten auf, die Aufnahme Polens und Tschechien in die EU davon abhängig zu machen, dass diese zunächst zur Heilung der Wunden, die durch das Verbrechen der Vertreibung geschlagen worden seien, einen Beitrag leisteten.

In diesem Text Steinbachs findet sich auch die vielfach von der deutschen und polnischen Presse zitierte Passage, dass es im Interesse aller Europäer liege, die hohe Wertschätzung der Menschenrechte nicht durch Länder wie Polen und Tschechien entwerten zu lassen. "Es bedarf keiner Kampfflugzeuge", schrieb sie wörtlich. Ein schlichtes "Veto" in Brüssel zur Aufnahme dieser Kandidaten sei ausreichend.

Ein Teil der deutschen Öffentlichkeit machte sich die Argumentation Erika Steinbachs zu Eigen und sah im Schicksal der deutschen Vertriebenen eine Parallele zu dem der Albaner und Bosniaken. "In Wirklichkeit ist es doch ganz anders", überzeugt Gabriele Lesser, "Denn die treffendere Analogie ist die zwischen Serben und Deutschen. Denn Deutsche wie Serben sind Opfer einer Politik der Aggression, die ihre Regierungen vom Zaun gebrochen hatten".
Die deutsche Öffentlichkeit ist für die Argumente Steinbachs wohl auch deshalb empfänglicher geworden, weil Steinbach andere Töne anschlägt als ihre Vorgänger im BdV. Sie beruft sich oft auf die Menschenrechte und ist im Gegensatz zum Sprachduktus älterer BdV-Aktivisten tunlichst bemüht, die politische Korrektheit zu wahren.

Aufgrund dieser Forderungen und einer Vertriebenenbiographie, die eher der Dichtung denn der Wahrheit verpflichtet ist, erlangte Steinbach schnell eine starke politische Position. Dabei hatte die "Rzeczpospolita" schon im Jahre 2000 die Wahrheit über die "Vertreibung" von Erika Steinbach aufgedeckt: Sie kam als Tochter eines deutschen Besatzungssoldaten zur Welt, noch dazu in einem Gebiet, auf dem zuvor die Deutschen die Polen vertrieben hatten. Heute gilt Erika Steinbach als eine der einflussreicheren Personen innerhalb der CDU.

Steinbach versus Lesser

Nachdem im Frühjahr 2003 die Abstimmungen über den Beitritt zur EU in Polen und Tschechien ein positives Ergebnis gebracht hatten, griff Erika Steinbach erneut die Idee auf, ein "Zentrum gegen Vertreibungen" zu errichten. Diese Vision eines Mahnmals, das in erster Linie den Deutschen gewidmet sein sollte, die infolge des verlorenen Krieges aus dem Osten vertrieben wurden, stieß in Polen auf eindeutige Ablehnung. Die in dieser Frage schwankende Haltung der deutschen Regierung trug zur weiteren Verschlechterung der – ohnehin nicht mehr guten – deutsch-polnischen Beziehungen bei. Auf Steinbach war man in Polen nicht gut zu sprechen.

Im August 2003 schickte Gabriele Lesser einen Kommentar zu den polnischen Reaktionen auf das geplante "Zentrum" an ihre Redaktionen in Deutschland. Darunter waren auch die "Kieler Nachrichten", die den Artikel – allerdings in abgewandelter Form – unter dem Titel "Von Versöhnung noch weit entfernt" veröffentlichten.

Lessers Ton war scharf und ironisch, wie in Kommentaren üblich. Die These war klar: Der fatale und überflüssige Streit um das geplante "Zentrum" hatte den deutsch-polnischen Beziehungen geschadet und dazu geführt, dass unter den Polen längst tot geglaubte antideutsche Phobien wieder auflebten. Ein Beispiel dafür war das Titelblatt-Collage des Nachrichtenmagazins "Wprost", auf dem Steinbach in SS-Uniform und auf Kanzler Schröder reitend dargestellt wurde. Lesser zitierte auch den ehemaligen polnischen Außenministers Bronislaw Geremek, der sagte: "Das Zentrum gegen Vertreibungen wird ein Denkmal des Hasses für die junge Generation sein". Abschließend fragt Lesser in ihrem Kommentar: "Es kann nicht sein, dass die Vertriebenen, so verständlich ihr individuelles Leid ist, die deutsch-polnische Versöhnung der letzten zehn Jahre in einen neuen Hass-Dialog verwandeln. Denn – wo soll das alles enden?".

Es war dies nicht der erste kritische Text aus der Feder von Gabriele Lesser über den BdV und dessen Präsidentin. Doch auch die meisten der übrigen deutschen Korrespondenten in Polen sowie zahlreiche Publizisten in Deutschland schrieben kritische Kommentare zu Erika Steinbach. Dennoch wurde die Klage Steinbachs nur an eine Warschauer Adresse versandt: an die Gabriele Lessers.

Zunächst hatte der Anwalt Steinbachs die Journalistin aufgefordert, eine Erklärung zu unterschreiben, in der sich Lesser verpflichten würde, einige ihrer kritischen Äußerungen über das geplante "Zentrum" und über Erika Steinbach in Zukunft zu unterlassen, weil diese der Wahrheit nicht entsprechen würden – nach Ansicht des Anwalts, der auf den medialen Bereich spezialisiert und für seine hohen Honorare bekannt ist.
Lesser weigerte sich, eine solche Erklärung zu unterschreiben. Mit der nächsten Post bekam sie schon die Klage und eine Vorladung zum Gerichtstermin. Den "Streitwert" hatten Steinbach und ihr Anwalt auf 60.000,- Euro festgelegt. "Die Summe ist absurd hoch", lacht Lesser ironisch, "Jeder Satz 20.000 Euro? Vielleicht fordere ich demnächst Honorare in vergleichbarer Höhe und berufe mich dabei auf Erika Steinbach, die meine Texte so hoch schätzt...".

Selbstverständlich, so führt der Anwalt von Steinbach in seiner Klage an, gehe es nicht darum, der Beklagen zu verbieten, sich kritisch zum BdV, seiner Präsidentin und dem "Zentrum gegen Vertreibungen" zu äußern.
"Selbstverständlich", sagt indes Gabriele Lesser, "selbstverständlich geht es genau darum! Man will mir den Mund verbieten".

Zu Gericht über die Geschichte

Die erhobenen Vorwürfe erwecken in der Tat den Eindruck, an den Haaren herbeigezogen zu sein. So bezeichnete Lesser das "Zentrum" als "Mahnmal", was in der deutschen Sprache mehr ist als ein Denkmal. Ein Mahnmal ist beispielsweise Yad Vashem, die Gedenkstätte an die Shoah in Israel. Auch das Holocaust-Museum in Washington hat Mahnmalscharakter.
Erika Steinbach meint nun, dass das Wort "Mahnmal" falsch sei, da das geplante "Zentrum" allein der Information dienen solle. "Aber dort sollen die Leute doch in der so genannten >Requiem-Rotunde< beten können", wendet Lesser ein, "Ich habe noch nie ein Informationszentrum gesehen, in dem die Menschen beten".

Die Vorwürfe Erika Steinbachs lassen sich auf zwei Fragen reduzieren, die von historischer und politischer Schlüsselbedeutung sind.
Zum einen stellte Lesser fest, dass es eine Verbindung zwischen dem zu errichtenden "Zentrum gegen Vertreibungen" in Berlin und dem in Bau befindlichen Holocaust-Mahnmal – ebenfalls in Berlin – gebe. Genauer, dass das "Zentrum", ob dies nun jemandem gefalle oder nicht, als Pendant zum Holocaust-Mahnmal und als dessen Gegengewicht wahrgenommen werde. Die deutschen Kriegsopfer würden den Opfern der deutschen Verbrechen gegenüber gestellt.

Der Steinbach vertretende Anwalt erklärt nun, dass der BdV niemals die Absicht gehabt habe, das "Zentrum" in diesem Zusammenhang zu sehen. Dabei gibt es aber frühere Äußerungen der Präsidentin des BdV, in denen sie den Wunsch äußert, das "Zentrum" solle doch in deutlich erkennbarer "geschichtlicher und räumlicher Nähe" zum Holocaust-Mahnmal lokalisiert werden.

Sie begründete diese Forderung damit, dass in der ersten Phase der Verfolgung die Juden auch Vertreibungsopfer gewesen seien. Wörtlich heißt es in der "Leipziger Volkszeitung" vom 29. Mai 2000: "Im Grunde genommen ergänzen sich die Themen Juden und Vertriebene miteinander. Dieser entmenschte Rassenwahn hier wie dort, der soll auch Thema in unserem Zentrum sein".

Zum zweiten hatte Lesser in ihrem Kommentar geschrieben, dass der BdV niemals positiv auf die Versöhnungsbotschaft der polnischen Bischöfe vom November 1965 geantwortet hatte. In diesem Brief an das deutsche Episkopat hatten die polnischen Bischöfe mit dem – inzwischen berühmten – Satz "Wir vergeben und bitten um Vergebung" die Hände zur Versöhnung ausgestreckt.

Der Anwalt von Erika Steinbach wendet nun ein, dass der damalige Vorsitzende des BdV den Brief der polnischen Bischöfe 1965 als "begrüßenswerte Geste" bezeichnet habe, was nun vom Gericht als "positive Antwort" gewertet werden solle. Nach dem Willen des BdV soll nun also das Gericht entscheiden, ob der BdV damals einen positiven Beitrag zur deutsch-polnischen Versöhnung geleistet hat.

Was aber heißt hier "positiv"?

Tatsächlich haben einige BdV-Mitglieder – nicht nur der vom Anwalt angeführte Wenzel Jaksch – auf die Versöhnungsbotschaft der polnischen Bischöfe mit Freude reagiert. Allerdings nicht aus jenen Gründen, die die Bischöfe beim Schreiben des Briefes im Sinn hatten. Die BdV-Funktionäre bewerteten diesen Brief als "positiv", weil sie darin eine Chance sahen, die Grenze zu Polen erneut in Frage stellen zu können. Doch darum war es den Bischöfen mit ihrer Bitte um Vergebung für die Vertreibung der Deutschen natürlich nicht gegangen.

Ähnlich "positiv" bewertete auch die neonazistisch geprägte "Deutsche National- und Soldatenzeitung" den Briefwechsel zwischen den polnischen und deutschen Bischöfen: Den polnischen Bischofsbrief könne man zum Anlass nehmen, um die Oder-Neiße-Grenze erneut in Frage zu stellen.
Es ist bezeichnend, dass die kommunistische Propaganda diese "positiven" Reaktionen des BdV und der Neonazis geschickt nutzte, um die katholische Kirche in Polen mit aller Macht anzugreifen und sie des Landesverrats zu bezichtigen. Presseberichte, die dies belegen, und die auch Reaktionen in Deutschland dokumentieren, füllen einige pralle Mappen, die der Chefredakteur des "Tygodnik Powszechny", Jerzy Turowicz, 1965 angelegt hatte. (Diese Mappen befinden sich heute im Krakauer "Turowicz-Archiv", das den Nachlass des 1999 verstorbenen Gründers des "Tygodnik Powszechny" aufbewahrt).

Wenn also das Gericht der Klage Erika Steinbachs stattgibt, und sie nicht als gegenstandslos zurückweist – wie Renate Damm, die Anwältin Gabriele Lessers beantragt hat – dann wird es vor einer schwierigen Aufgabe stehen: Es muss entscheiden, was in den vergangenen Jahrzehnten als "positiver" Beitrag zur deutsch-polnischen Versöhnung gewertet werden kann und was nicht.

Zentrum gegen Vertreibungen – trotz alledem?

Vielleicht hat es Erika Steinbach gerade darauf angelegt? Vielleicht will sie einen Präzedenzfall heraufbeschwören, bei dem ihr das Gericht helfen soll, ihre politischen Ziele zu verwirklichen und die Geschichte so umzuschreiben, dass der BdV sich plötzlich als Förderer der deutsch-polnischen Versöhnung präsentieren könnte?

Sollte es Erika Steinbach in diesem Prozess gelingen, Gabriele Lesser den Mund verbieten zu lassen, wäre dies ein Signal für alle anderen potentiellen Kritiker des BdV.
So wie Lesser denken in Deutschland viele Journalisten. Doch im Unterschied zu ihr – die als so genannte freie Journalistin arbeitet – stehen hinter ihnen meistens große Verlage, die im Falle eines Prozesses die Kosten schultern können und selbst, wenn sie verlieren sollten, nicht gleich ruiniert sind. Doch selbst ein gewonnener Prozess verursacht Kosten.

"Im Grunde genommen ist dieser Prozess völlig absurd", sagt Gabriele Lesser. "Vielleicht bringt er Erika Steinbach eine gewisse Genugtuung? Ich weiß es nicht. Ich verstehe auch nicht, wieso sie sich nichts von Marek Edelmann sagen lässt, von Bronislaw Geremek oder Jerzy Holzer, wieso sie die vielen bekannten polnischen, tschechischen und deutschen Intellektuellen einfach ignoriert".

Erika Steinbach kündigte bereits an, dass sie das "Zentrum gegen Vertreibungen" auf jeden Fall bauen werde, auch wenn es Jahre dauern sollte – und trotz der Proteste aus Polen und Tschechien.
"Erika Steinbach will mit aller Macht beweisen", so Gabriele Lesser, "wie meisterhaft die Deutschen sich versöhnen können. Nur – eben nicht mit den früheren Opfern, sondern gegen sie".

hagalil.com 16-02-04