Buskeismus

Fall Gysi

 

 

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Der Bundesbeauftragte
für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes
der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik

Az.: 11635/92 Z

Gutachterliche Stellungnahme - Einführung, Abschnitt 1

zu in der Behörde des Bundesbeauftragten aufgefundenen Unterlagen, die mit Dr. Gregor Gysi im Zusammenhang stehen
und
Dokumentenanhang.

 

Vorgelegt entsprechend dem Auftrag
des Deutschen Bundestages,
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
vom 09. Februar 1995

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Inhaltsverzeichnis

Einführung

1. Informationen der HA XX/9, die hinsichtlich ihrer Entstehung und ihres Inhaltes auf den IM-Vorlauf "Gregor", GMS "Notar" und IM "Notar" zurückzuführen sind

2. Zu weiteren Unterlagen, die auf einen personenbezogenen Einsatz von Dr. Gysi durch das MfS hindeuten (Konzeptionen, Pläne ...)

3. Zu den aufgefundenen Finanzbelegen

4. IM-Vorlauf-Akte

4.1 Zum Inhalt der IM-Vorlauf-Akte

4.2 Zur Registrierung des IM-Vorlaufes "Gregor"

5. Zum Vorgang einer "Operativen Personenkontrolle" (OPK) über Dr. Gysi

6. Fazit

Fußnoten

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Einführung

Die bisher in der Behörde des Bundesbeauftragten aufgefundenen und zum großen Teil der Öffentlichkeit bereits bekannten Dokumente mit Hinweisen über die Weitergabe von Informationen über oppositionelle Bürger der DDR durch den Rechtsanwalt Dr. Gysi an das Ministerium für Staatssicherheit zeigen deutlich: Einerseits, daß langjährige Kontakte bestanden zwischen Dr. Gysi und der Hauptabteilung XX, der Diensteinheit, die im Gesamtrahmen des MfS die Federführung bei der "vorbeugenden Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit" in der DDR hatte, und andererseits, daß er nicht förmlich als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) erfaßt war.

Die Zusammenarbeit fand in dem Zeitraum von 1978 - 1989 durchgängig mit den MfS-Offizieren Reuter, zuletzt Oberst und seit 1981 in der Dienststellung eines Abteilungsleiters beim MfS, und dessen langjährigem Stellvertreter, Oberstleutnant Lohr, statt. Beide nahmen auf zentraler Ebene des MfS eine entscheidende Stellung bei der "operativen Bearbeitung" der so genannten Untergrundszene in der DDR ein.

Angefangen von der anwaltlichen Vertretung Dr. Rudolf Bahros 1978, der Übernahme des Rechtsbeistandes von Prof. Dr. Robert Havemann und seiner Ehefrau Ende der 70er bzw. Anfang der 80er Jahre bis hin zur Rechtsberatung von Bärbel Bohley und anderen Personen, die aus der DDR ausgewiesen wurden und 1988 wieder einreisen konnten, war Dr. Gysi als Rechtsanwalt über einen Zeitraum von mehr als 10 Jahren für prominente Repräsentanten der "inneren Opposition" in der DDR tätig. Für das MfS wurde er deswegen immer mehr zu einer wichtigen Person bei "der Bekämpfung des politischen Untergrundes" in der DDR.

Die aufgefundenen Unterlagen legen den Schluß nahe, daß Dr. Gysi als anwaltlicher Vertreter von oppositionellen Bürger die Interessen des MfS mit durchzusetzen half und mandantenbezogene Informationen an das MfS weitergab. Diese Schlußfolgerung läßt sich auf folgende beispielhaft genannte Textstellen aus den vorhandenen Unterlagen stützen:

- In dem "Plan zur Verhinderung von Provokationen Robert Havemanns im Zusammenhang mit der Veranstaltung anläßlich des 35. Jahrestages der Befreiung des Zuchthauses Brandenburg..." vom 24.04.80 wird durch die HA XX/Operativgruppe (s. Fußnote Nr. 4) für den GMS "Gregor" festgehalten, wie er auf Robert Havemann Einfluß auszuüben und damit "operative" Interessen des MfS durchzusetzen hat (vgl. S. 182).

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In den Jahren 1979 und 1980 hat Dr. Gysi ausführliche Informationen über seine Mandanten Dr. Rudolf Bahro und Prof. Robert Havemann an das MfS übermittelt. So informierte er am 06.12.1978 das MfS über sein Gespräch am 02.12.1978 mit Rudolf Bahro in der Haftanstalt Bautzen. Darin heißt es u. a.: "Aus Furcht, daß das Gespräch abgehört werden könnte, notierte er (R. Bahro - BStU)1) auf meinem Zettel, daß er bereits eine Meldung nach drüben lanciert habe, die eine Berichtigung der ADN-Nachricht über seine Verurteilung darstellen würde."

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Die Unterlagen besagen weiterhin, daß mindestens seit Dezember 1978 verantwortliche Offiziere des MfS Kontakt zu Dr. Gysi mit der Zielstellung aufnahmen, von ihm Informationen über Absichten und Pläne seines Mandanten Rudolf Bahro zu erhalten. Damit verbunden sollten offensichtlich auch die Eignung und Bereitschaft von Dr. Gysi für eine längerfristige inoffizielle Zusammenarbeit mit dem MfS geprüft werden. Vor allem die von Dr. Gysi in bezug auf die "operative" Bearbeitung von Rudolf Bahro gezeigte "Zuverlässigkeit" und "hohe Einsatzbereitschaft" (s. Werbungsvorschlag vom 27.11.80, S. 375) nahm das MfS zum Anlaß, ihn als IM-Kandidaten zu registrieren, was aus der Existenz der IM-Vorlaufakte deutlich wird. Als vorläufiger Deckname wurde von MfS-Mitarbeitem "Gregor" gewählt. Nach Aktenlage kam es nicht zu einer förmlichen Verpflichtung von Dr. Gysi als IM und auch zu keiner entsprechenden Umregistrierung zu einem IM-Vorgang.

Stattdessen wurde die IM-Vorlaufakte "Gregor" nach dem außerordentlich langen Zeitraum von sechs Jahren geschlossen (vergl. Pkt. 4.) und Dr. Gysi sodann unter eine Operative Personenkontrolle (OPK)2) mit dem Decknamen "Sputnik" gestellt. Die dazu aufgefundenen Aktenstücke sind in nachfolgenden Abschnitten näher dargestellt.

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Unabhängig von der Art seiner Registrierung durch das MfS hat Dr. Gysi in den Jahren 1978 bis 1988 bei Treffen mit den genannten Offizieren des MfS eine Vielzahl detaillierter Informationen über seine Mandanten und andere Personen, die sich in Rechtsfragen an ihn wandten, übermittelt. Dadurch war es dem MfS in vielen Fällen möglich, sich rechtzeitig auf geplante Aktivitäten solcher Personen, wie z. B. Bärbel Bohley, Gerd Poppe, Lutz Rathenow, Bettina Wegener u. a., einzustellen.

Unabhängig davon, ob Dr. Gysi als IM-Vorlauf "Gregor" oder als OPK "Sputnik" registriert war, wurde er in internen Informationen von den für ihn zuständigen MfS-Offiziere und in Einsatzplänen über den gesamten Zeitraum als IM bezeichnet, wobei die Decknamen "Gregor", "Notar" oder "Sputnik" verwendet wurden.

Die Gesamtheit des vorliegenden Materials läßt darüber hinaus den Schluß zu, daß bei Dr. Gysi in bezug auf seine Zusammenarbeit mit dem MfS eine "Einsatzrichtung" 3) (oppositionelle Bürger in der DDR), eine bestimmte Auftragsstruktur (Einfluß ausüben, Interessen des MfS durchsetzen) und offensichtlich auch die Bereitschaft, personenbezogene Informationen zu liefern, gegeben war. Eine solche Bereitschaft ist im Rahmen der "operativen Bearbeitung" von Personen durchaus ein Wesenszug der inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS (vgl. u. a. Richtlinie Nr. 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge, S. 11 f., GVS MfS 008-100/76).

In der nachfolgenden gutachterlichen Stellungnahme wird auch die von Dr. Gysi gegenwärtig selbst gebrauchte These widerlegt, daß die Decknamen "Gregor", "Notar" oder "Sputnik" lediglich Bezeichnungen für eine Sammlung von Informationen seien, die zwar einen bestimmten Sachverhalt beträfen, aber aus verschiedenen Quellen stammten. Denn tatsächlich waren "Gregor", "Notar" oder "Sputnik" Decknamen für ein und dieselbe Person, die abgestimmt mit dem MfS handelte, Kontakte zu operativ interessanten Personen besaß und solche Informationen lieferte, die nur von dieser Person selbst stammen konnten.

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Die Stellungnahme der Behörde des Bundesbeauftragten beruht auf der Analyse

- der zu Dr. Gregor Gysi vom MfS angelegten IM-Vorlaufakte "Gregor", Archiv-Nr. AIM 9564/86

- von aufgefundenen Fragmenten einer OPK "Sputnik", Reg.-Nr. XV/4628/86

- von sogenannten Einsatzdokumenten der HA XX/Operativgruppe (HA XX/OG) bzw. der HA XX/94) zur "Bearbeitung" des politischen Untergrundes in der DDR sowie auf der Analyse einer Reihe von

- Aktenstücken aus operativen Vorgängen zu verschiedenen oppositionellen Personen. Diese in der Abteilung Xll5) des MfS registrierten Vorgänge enthalten Informationen, die sich auf den Rechtsbeistand oder den juristischen Berater Dr. Gysi zurückführen lassen.

Grundlage dieser gutachterlichen Stellungnahme sind außerdem die in der Behörde des Bundesbeauftragten, insbesondere über die HA XX, vorliegenden umfänglichen Erkenntnisse über Arbeitsweisen und Praktiken des MfS bei der "Bekämpfung" des politischen Untergrundes" in der DDR.

Mit der Stellungnahme wird erstmals auf der Grundlage sämtlicher hierzu aufgefundener Unterlagen einschließlich der vom BStU bislang noch nicht beigezogenen Unterlagen aus operativen Vorgängen

- eine umfassende Darstellung der sich aus den Unterlagen ergebenden Kontakte zwischen Dr. Gysi und dem MfS vorgelegt.

Die im Text enthaltenen Seitenangaben beziehen sich auf den der Stellungnahme beigefügten Dokumentenanhang. Ausnahmen davon sind besonders gekennzeichnet. Erläuternde Bemerkungen zu Originalzitaten sind in Klammern gesetzt und mit dem Kürzel "'BStU" gekennzeichnet.

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1. Informationen der HA XX/9, die hinsichtlich ihrer Entstehung und ihres Inhaltes auf den IM-Vorlauf "Gregor". GMS "Notar" und IM "Notar" zurückzuführen sind

a) Direkte Hinweise auf die Quelle

Grundlage der nachfolgenden Ausführungen bilden insgesamt 13 Unterlagen der HA XX/OG bzw. ab 1981 der HA XX/9 aus den Jahren 1978 bis 1988, die einen direkten Bezug auf den IM-Vorlauf "Gregor", GMS6) "Notar" sowie IM "Notar" enthalten. Bei diesen Dokumenten handelt es sich um zehn Abschriften vom Tonband, zwei Vermerke und einen Treffbericht, in denen im einzelnen 4mal der IM-Vorlauf "Gregor", 2mal der GMS "Notar" und 7mal der IM "Notar" als Quelle der entsprechenden Informationen bezeichnet wird.

Übereinstimmendes Merkmal aller dieser Informationen ist, daß es sich um die Dokumentation von Gesprächsinhalten des Rechtsanwaltes Dr. Gysi mit seinen Mandanten und anderen Personen handelt, die sich in Rechtsfragen an ihn wandten.

Die Analyse dieser Informationen, verbunden mit den Hier vorliegenden Kenntnissen über die Arbeitsweise der Hauptabteilung XX, legt den Schluß nahe, daß diese Informationen nur von einer einzigen Quelle stammen und nicht Ergebnis angewendeter unterschiedlicher Mittel und Methoden des MfS (z. B. Einsatz mehrerer IM, Abhörmaßnahmen, Postkontrolle, Beobachtung) sind oder der eine Sammlung daraus resultierender Erkenntnisse und deren Bündelung in einer Information darstellen.

Dafür spricht vor allem, daß es sich bei zehn der 13 Unterlagen um Abschriften von Tonbändern handelt, die den Inhalt von Gesprächen, die Dr. Gysi mit Mandanten führte, wiedergeben. Die in sich schlüssigen Abfolgen und Inhalte der in den Informationen dokumentierten Gesprächsführungen (z. B. erkennbare Eröffnung und Beendigung der Gespräche, logisches Anknüpfen an Inhalte vorausgegangener Gespräche, eingefügte eigene Wertungen der Quelle zu Aussagen und Verhaltensweisen ihrer Gesprächspartner, das Fehlen zeitlicher und örtlicher Brüche in den Informationen) verweisen darauf, daß es sich nicht um Informationen verschiedener Quellen handelt. Vielmehr muß demzufolge davon ausgegangen werden, daß diese Informationen von einer Person in einem Zuge auf Band gesprochen wurden.

Dafür spricht auch die Schnelligkeit der Informationsübermittlung zu einem Sachverhalt an das MfS. So erfolgte die Entgegennahme der Informationen über die Gesprächsinhalte des Dr. Gysi mit anderen Personen entweder am Tag der Gesprächsführung (drei Fälle), am darauffolgenden Tag (drei Fälle) oder innerhalb der nächsten vier Tage (fünf Fälle). Ein solch enger Zeitrahmen läßt eine direkte Informationsvermittlung vermuten. Würde es sich dagegen um die Sammlung von Informationen aus verschiedenen Quellen gehandelt haben, hätte das vorausgesetzt, daß bei

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derart kurzen Zeitabständen zeitgleich mehrere IM beauftragt, Treffs mit ihnen durchgeführt, durch die Führungsoffiziere die erhaltenen Informationen anschließend sofort aufbereitet und an eine Stelle weitergeleitet werden, die aus der Vielzahl der Informationen eine Zusammenfassung hätte anfertigen müssen.

Darüber hinaus ergäbe es auch keinen Sinn und stünde im Widerspruch zur "operativen" Praxis, die Informationsberichte ausdrücklich mit dem Vermerk "Tonbandabschrift", dem Decknamen einer informierenden Quelle sowie mit den Namen der entgegennehmenden MfS-Offiziere Reuter und Lohr zu versehen.

Die unter Berufung auf die Quellen IM-Vorlauf "Gregor", GMS oder IM "Notar" vorliegenden 13 Unterlagen der HA XX/9 können auch nicht als Ergebnisse von Abhörmaßnahmen angesehen werden. Ihnen fehlen zum einen jegliche Signaturen der für Abhörmaßnahmen zuständigen Abteilung 26 des MfS. Zum anderen wurden Abhörinformationen in der Regel auch in der Hauptabteilung XX als solche gekennzeichnet.

Des weiteren fehlen den Informationen jene charakteristischen Merkmale, die typisch für im Ergebnis von Abhörmaßnahmen entstandene Protokolle sind. So ist z. B. aufgrund von auf einen Gesprächsverlauf stets einwirkenden vielfältigen Nebengeräuschen (Radio, Fernseher, Verkehrslärm, andere Schallquellen) dessen wortgetreue Wiedergabe kaum möglich.

Deshalb taucht vor allem in umfangreichen Abhörprotokollen meist im Zusammenhang mit Namensnennungen, Ortsbezeichnungen, Zeitangaben usw. der Hinweis "phonetisch" auf, d. h., Abhörer oder Protokollschreiber sind sich nicht sicher, ob sie die entsprechende Passage richtig verstanden haben. Darüber hinaus beschränken sich Abhörprotokolle nur auf den eigentlichen Gesprächsverlauf und beinhalten keine Aussagen zur Atmosphäre zwischen den Gesprächsteilnehmern, Einschätzungen zum Befinden von Personen sowie zu Problemkreisen, über die beim Abhören nicht gesprochen wurde (Beispiele für Telefonabhörprotokolle s. S. 103, 104).

Aus den bisherigen Darlegungen ergibt sich:

Wäre der Deckname "Notar" die Bezeichnung einer über Dr. Gysi durch die Hauptabteilung XX/9 geführten Materialsammlung, so müßten entweder alle oder mindestens eine Vielzahl darin enthaltener Informationen, die von unterschiedlichen Quellen sowie von verschiedenen hauptamtlichen Mitarbeitern des MfS zu Dr. Gysi erarbeitet wurden, ebenfalls mit der Deckbezeichnung "Notar" gekennzeichnet sein.

Dies trifft jedoch nicht zu. Es wurde im Gegenteil festgestellt, daß z. B. in der IM-Vorlaufakte "Gregor" Informationen anderer IM über Dr. Gysi auch eindeutig diese IM mit Nennung ihres Decknamens als Quelle ausweisen. Die Verwendung des Decknamens "Notar" erfolgte ausschließlich durch die Offiziere Reuter und Lohr. Der Deckname "Notar" wurde von ihnen immer dann verwendet, wenn es um Informationen über Personengruppen ging, deren übereinstimmendes Merkmal darin bestand, daß Dr. Gysi als einzige Person stets daran beteiligt war.

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Die Abschriften vom Tonband weisen außer den hinzugefügten Decknamen der Quelle der Information und dem Namen des entgegennehmenden MfS-Mitarbeiters keine weiteren Hinzufügungen oder Vermerke auf, die Rückschlüsse darauf zulassen würden, daß neben der bezeichneten Informationsquelle noch weitere Berichterstattungen anderer Quellen in den Informationen verarbeitet wurden.

b) Zur Anwendung verschiedener Decknamen für Dr. Gregor Gysi

Auffallend ist, daß die MfS-Offiziere Reuter und Lohr für Herrn Dr. Gysi unterschiedliche Decknamen verwendeten und ihn verschiedenen IM-Kategorien zuordneten. Ein Grund ist nicht erkennbar. Neben "Gregor" oder "Notar" kam in Verbindung mit der Bezeichnung IM für Dr. Gysi auch der Deckname "Sputnik" zur Anwendung (s. S. 291). Beide genannten leitenden Mitarbeiter der HA XX/9 gingen in dieser Sache regelrecht willkürlich vor, was sich z. B. an folgender Darstellung zeigt:

Am 06.12.78 und am 13.03.79 führten diese MfS-Offiziere der HA XX/9 mit Dr. Gysi in dessen Wohnung Gespräche, die ihrem Charakter nach als Kontaktaufnahmen zur Prüfung seiner Bereitschaft zur Informationsweitergabe (hier zu Rudolf Bahro) bezeichnet werden können. Über die entsprechenden Gesprächsinhalte fertigten sie Berichte an und ordneten diese dem IM-Vorlauf "Gregor", der zu dieser Zeit noch gar nicht in der Abteilung XII registriert war, zu. Gleiches trifft auf die Informationen vom 23.07.1980 und 29.08.1980 zu. Das vorschriftmäßige Anlegen des IM-Vorlaufes erfolgte indessen erst am 18.09.1980. Die vorgenommene Quellenbezeichnung IM-Vorlauf "Gregor" durch diese MfS-Offiziere verdeutlicht einerseits deren Einschätzung der Kontakte zu Dr. Gysi und weist andererseits auf die von ihnen vorgesehene Richtung der Entwicklung des Kontaktes zu ihm hin.

Bezeichnend für den speziellen Fall Dr. Gysi ist auch die ab 1981 verwendete Bezeichnung GMS oder IM "Notar". Weder ein GMS noch ein IM mit diesem Decknamen war in der Abt. XII6) des MfS für Herrn Lohr bzw. die HA XX/9 überhaupt registriert. Allerdings ist die Bezeichnung "Notar" als künftiger IM-Deckname für Dr. Gysi vorgesehen (s. S. 310). Für den Zeitraum der Registrierung Dr. Gysis als IM-Vorlauf (28.10.1980 - 14.08.1986) hätten ihm zugeordnete Informationen auch die Quellenbezeichnung IM-Vorlauf "Gregor" erhalten müssen. Charakteristisch für den willkürlichen Umgang mit IM-Kategorien ist weiter der Treffbericht vom 08.04.1981. Herr Lohr dokumentiert hier einen Treff mit dem GMS "Notar" und vermerkt, daß der GMS einen Bericht auf Tonband sprach. In der Tonbandabschrift wird aus dem GMS "Notar" jetzt der IMS "Notar". (Zur Zuordnung des Decknamens "Notar" s. S. 4 der Stellungnahme.)

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Ein weiteres Beispiel dafür ist, daß Herr Reuter am 08.09.1988 auf einer von ihm gefertigten Information folgende Angaben macht:

"Tonbandabschrift

Quelle: IM "Notar"

angenommen: Oberst Reuter am 8. Sept. 1988".

(s. S. 46)

Zu diesem Zeitpunkt war, abgesehen davon, daß es keinen registrierten IM "Notar" gab, auch der IM-Vorlauf "Gregor" bereits seit 2 Jahren archiviert.

Einzige, aber wichtige Ausnahme von dieser ansonsten willkürlichen Verfahrensweise stellt der Treffbericht vom 08.04.1981 zum Treff vom 07.04.1981 dar. In ihm wurde der konspirative Treffort, die konspirative Wohnung IMK "Ellen" sowie die Teilnahme des Dienstvorgesetzten des Führungsoffiziers Major Lohr, Oberst Reuter, vermerkt. Des weiteren wird dieser Treffverlauf chronologisch dargestellt (Beratung kommender Aufgaben und dazu Festlegung des weiteren Vorgehens, Information über weitere interessierende Personen sowie Besprechen eines Tonbandes mit einer Personeninformation - die abschriftlich dem Treffbericht beigefügt wurde). Dieser Treffbericht zeigt auf, daß die MfS-Offiziere Reuter und Lohr sehr wohl auch die für sie eigentlich verbindlich vorgeschriebenen Verfahrensweisen bei der Auswertung von Treffs mit IM auch im Zusammenhang mit der Quelle "Notar" durchaus beachten konnten.

Das beim Treff am 07.04.1981 festgelegte Vorgehen im Rahmen des Operativvorganges (0V)7) "Leitz" (Prof. Havemann) wurde offensichtlich auch wie geplant durchgeführt. Hierzu heißt es wörtlich:

"Mit 'Notar' wurde die Möglichkeit eines weiteren Besuches bei Robert Havemann in Grünheide beraten und festgelegt, daß er ihn zum Zwecke der Informierung über den Stand des Holzhauses am 10.04.1981 aufsucht. Er wird sich telefonisch über die Haeseler anmelden lassen.

Die Zielstellung des Besuches besteht festzustellen,

- welche Meinung Havemann zum bevorstehenden X. Parteitag der SED vertritt, damit im Zusammenhang geplante Aktivitäten in Erfahrung zu bringen, besonders evtl. Absichten westlicher Journalisten mit Havemann in Kontakt zu kommen. Dabei soll ihn "Notar" eindringlich beeinflussen, alle evtl. negativen Vorhaben zu Unterlassen

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- wie er die derzeitige Lage in der VR Polen einschätzt, ob er Kontakte nach dort unterhält und Artikel versandt hat

- wie die familiäre Situation, besonders das derzeitige Verhältnis zur Ehefrau und der Gesundheitszustand Havemanns einzuschätzen ist." (s. S. 30).

Am 09.04.1981 zeichnete die für Telefonabhörmaßnahmen zuständige Abteilung 26 des MfS folgendes Telefongespräch auf:

"Information vom 09.04.1981 zu OV 'Leitz'.

Katja Havemann spricht vom Anschluß der Haeselers aus mit Rechtsanwalt Dr. Gysi.Katja erkundigt sich nach dem Stand der Angelegenheit des Häuschens. Gysi hat vom Rechtsanwalt einen Anruf erhalten, die Taxurkunde besitzt er jedoch auch noch nicht. Er will wissen, ob Havemanns morgen zu Hause sind. Als Katja das bestätigt, erklärt er, er werde in den Vormittagsstunden Havemanns einen Besuch abstatten.

Katja erwähnt, daß die Frau Haeseler eine Frage wegen des Kaufs eines Hauses hat. Sie will wissen, ob sie diese Frage morgen mit ihm besprechen kann, weil sie es dann am Telefon nicht abzuhandeln brauchten.

Gysi bejaht. Frau Haeseler kann mit ihm sprechen, wenn er morgen in Grünheide ist.

Gesprächsende: 15.17 Uhr"

(s. S. 104).

Am 11.04.1981 nahm Major Lohr die Berichterstattung von "Notar" zu dessen Besuch bei Prof. Havemann am 10.04.1981 vormittags entgegen.

Ausgehend von der beim Treff am 07.04.1981 beratenen Zielstellung für diesen Besuch berichtete "Notar" u.a. folgendes:

" Hinsichtlich des Parteitages der SED vertritt er die Auffassung, daß dieser nichts Neues bringen werde und nicht von großer Bedeutung ist. Er habe durch Gespräche mit Besuchern mitbekommen, daß man daran interessiert sei, daß er möglichst Grünheide zu einem Kurzurlaub verlassen würde und nicht der Nähe des Parteitages zu sein. Offensichtlich hätten bestimmte Organe große Angst davor, daß er sich mit Delegationen westlicher komm. Parteien treffen könnte oder aber Interviews gegenüber Journalisten geben würde. All dies habe er nicht vor. Er lasse sich weder von der einen, noch von der anderen Seite provozieren.

- Zu Polen äußerte sich Havemann der Gestalt, daß die Bewegung von Solidarnosc zurückzuführen sei auf die unmarxistische Politik der Partei- und Staatsmacht in den zurückliegenden Jahren...

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- Abschließend wurde noch die Frage seiner Intelligenzrente erörtert. Bis zum nächsten Gespräch habe man alle Unterlagen zusammen und wird dann einen entsprechenden Auftrag an seinen Rechtsanwalt erteilen.

  An dem Gespräch nahm die ganze Zeit die Ehefrau von Havemann teil."

  (s. S. 32, 33)

Das heißt, alle drei vorgegebenen Themenkomplexe (SED-Parteitag, Lage in Polen und familiäre Probleme) wurden von "Notar" beim Besuch Prof. Havemanns angesprochen.

Darüber hinaus wird im Bericht von "Notar" auch auf die erteilte Rechtsauskunft an die Nachbarin der Familie Havemann, Frau Haeseler, wie folgt eingegangen:

"Anschließend erschien Frau Haeseler, weil sie eine Rechtsauskunft hatte. Sie teilte mit, daß ihre Tochter zusammen mit deren Ehemann ein Grundstück in Kleinmachnow erwerben würde, daß aber das gesamte Geld für den Erwerb von ihr stamme. Sie erkundigte sich danach, ob es Möglichkeiten gäbe, daß allein ihre Tochter als Grundstückseigentümer eingetragen wird. Der Rechtsanwalt von Prof. Havemann hat ihr die entsprechenden rechtlichen Bestimmungen genannt."

(s. S.33)

Daß dieser für das MfS völlig unwichtige Sachverhalt in der Berichterstattung enthalten ist, belegt erneut, daß diese und andere Informationen von einer Person stammen und in diesem Fall in einem Zuge auf Band gesprochen wurden. Des weiteren kann gefolgert werden, daß "Notar" das Band bereits vor dem Treff besprochen hatte, da in Gegenwart von Major Lohr wohl kaum eine derartige Passage in den Bericht aufgenommen worden wäre.

In der Sache ist hier von Bedeutung, daß die Rechtsberatung der Frau Haeseler im Telefongespräch zwischen Frau Havemann und Dr. Gysi am 09.04.1981 (vgl. S. 104) vereinbart wurde und deren Durchführung im Bericht des GMS "Notar" Erwähnung findet. Damit wird ein weiteres mal die Verknüpfung zwischen dem Decknamen "Notar" und Dr. Gysi deutlich. Vergleichbare Schlußfolgerungen lassen sich auch aus einem Abhörprotokoll vom 04.01.1982 (s. S. 112) und einem Bericht des IM "Notar" vom 06.01.1982 (s. S. 34 - 36) ziehen. Deutlich wird erneut, daß die Quelle "Notar" eine handelnde Person und keine Deckbezeichnung für die zu Informationen aufbereiteten Ergebnisse des Einsatzes verschiedener IM oder anderer unterschiedlicher Mittel und Methoden des MfS war.

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Ausgehend davon, daß der Leiter der HA XX/9, Oberst Reuter, und sein Stellvertreter. Herr Lohr, langjährige Erfahrungen in der IM-Arbeit hatten und selbst die Durchsetzung der Befehle und Weisungen auf diesem Gebiet gegenüber Unterstellten zu kontrollieren und anzuleiten hatten, kann ihre Verfahrensweise mit der Quelle "Notar" nicht als Versehen oder Nachlässigkeit angesehen werden.

Wenn also für ein und dieselbe Quelle unterschiedliche Decknamen zur Anwendung kommen, die nicht mit der Nachweisführung der Erfassung von Dr. Gysi in der Abteilung XII des MfS übereinstimmen, dann entsteht zunächst der Eindruck, daß die Erfassungsart der Quelle bei den MfS-Offizieren im Falle von Dr. Gysi nur eine untergeordnete Rolle spielte. Vielmehr war aber von Interesse, die aus dem Erfassungsverhältnis resultierende Möglichkeit, zu Dr. Gysi Kontakt zu halten und Informationen zu gewinnen, auch künftig zu gewährleisten.

c) Indirekte Hinweise auf die Quelle

Neben den bereits genannten 13 Unterlagen, die einen direkten Hinweis auf die Quelle IM-Vorlauf "Gregor" und IM "Notar" enthalten, liegen weitere 28 Unterlagen der HA XX/9 vor, die nur allgemein mit dem Vermerk "inoffiziell wurde bekannt", "gez. IM" oder "wegen Quellengefährdung offiziell nicht auswertbar" versehen sind.

Ein übereinstimmendes Merkmal dieser 28 Informationen besteht darin, daß Dr. Gysi darin stets eine zentrale Rolle spielt, d. h., er wird in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt von anderen Personen angesprochen. Bis auf eine Ausnahme ist weiter charakteristisch, daß es sich um direkte oder fernmündliche Gesprächsführungen dieser Personen mit Dr. Gysi in dessen Rechtsanwaltsbüro handelt.

Einige dieser Informationen können daher ebenfalls vom IM "Notar" stammen bzw. es liegt nahe, daß dieser an der Informationsgewinnung des MfS beteiligt war. Dies beruht auf der Tatsache, daß diese Informationen solchen, die direkt unter Berufung auf den IM "Notar" gewonnen wurden, hinsichtlich ihres Personen- und Sachbezuges entsprechen und ebenfalls von den MfS-Offizieren Reuter und Lohr stammen. Das trifft beispielsweise auf den "Auszug aus einem Bericht" vom 28.06.1979 zu. Er ist ein in Ich-Form gehaltener Bericht über ein Gespräch mit Prof. Havemann am 27.06.1979 in Grünheide, Gesprächspartner von Prof. Havemann war ein Rechtsanwalt, dessen Mandant zu diesem Zeitpunkt Rudolf Bahro war. Dies trifft nur auf Dr. Gysi zu.

Andere Informationen aus den Unterlagen, wie die

- Aktennotiz vom 01.09.1980 (Gespräch zwischen Ulrich Havemann und RA Gysi in dessen Büro)

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- Tonbandabschrift, Vermerk vom 22.03.1983 (Rücksprache zwischen Bettina Wegner und RA Gysi vom 02.03.1983 im Büro des RA)

- 21.07.1988 und 25.07.1988 Vermerke (Anrufe von Bärbel Bohley aus Italien bei RA Gysi)

- Information vom 28.10.1988
(fernmündliches Gespräch zwischen RA Gysi und Frau Maja Wiens am 27.10.1988,

sind hinsichtlich ihres Ursprungs nicht eindeutig bestimmbar. Hinweise aus den Unterlagen besagen nämlich, daß in den Jahren 1986 und 1987 der Telefonanschluß der Anwaltskanzlei von Dr. Gysi zeitweilig vom MfS überwacht worden ist (siehe S. 408). Hierdurch konnte sich das MfS einerseits stets aktuell über den Inhalt von Gesprächen zwischen Mandanten und Dr. Gysi informieren und andererseits Dr. Gysi hinsichtlich seiner Zuverlässigkeit gegenüber dem MfS überprüfen.

 

Weiter zu:          Abschnitte 2. und 3.    Abschnitte 4. und 5.

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Fußnoten:

1) Erläuternde Einfügungen in Originalzitaten werden mit BStU gekennzeichnet.

2) Eine OPK stellte im MfS eine Form der "operativen Bearbeitung" von Personen dar, was in einer formgebundenen Akte zu dokumentieren war.

3) Die Einsatzrichtung gibt an, in welchem Bereich oder unter welchen Personen bzw. Personengruppen vom MfS genutzte Personen hauptsachlich tätig werden sollen.

4) Die HA XX war zuständig für die Gebiete "Staatsapparat, Volksbildung. Gesundheitswesen, Justiz Parteien (ohne SED), Massenorganisationen, Sport, Kunst, Kultur, Kirchen, politischer Untergrund". Die HA XX/(Operativgruppe) wurde wegen seiner überragenden politischen Bedeutung ursprünglich geschaffen, um Prof. Havemann operativ bearbeiten und kontrollieren zu können. Später wurde aus der HA XX/OG die HA XX/9 gebildet, die ausschließlich für die "Bekämpfung des politischen Untergrundes" zuständig war.

5) Die Abteilung XII war u.a. verantwortlich für die zentrale Nachweisführung und Auskunftsabteilung über erfaßte Personen  und registrierte Akten (Vorgänge).

6) GMS ist eine Kategorie inoffizieller Mitarbeiter und heißt "Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit"

7) Operative Vorgänge (OV) waren nachweispflichtige formgebundene registrierte Akten, in denen gem. StGB der DDR Personen wegen des "Verdachts der Begehung" von Staatsverbrechen, aber auch einer Straftat der allgemeinen Kriminalität vom MfS "bearbeitet" wurden.

 

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Dieses Dokument wurde zuletzt aktualisiert am 02.08.06
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