Buskeismus

Fall Gysi

 

 

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Az.: 11635/92 Z

Gutachterliche Stellungnahme -  Abschnitte 4. bis 6.

zu in der Behörde des Bundesbeauftragten aufgefundenen Unterlagen, die mit Dr. Gregor Gysi im Zusammenhang stehen
und
Dokumentenanhang -  09.02.1995

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Inhaltsverzeichnis

Einführung

1. Informationen der HA XX/9, die hinsichtlich ihrer Entstehung und ihres Inhaltes auf den IM-Vorlauf "Gregor", GMS "Notar" und IM "Notar" zurückzuführen sind

2. Zu weiteren Unterlagen, die auf einen personenbezogenen Einsatz von Dr. Gysi durch das MfS hindeuten (Konzeptionen, Pläne ...)

3. Zu den aufgefundenen Finanzbelegen

4. IM-Vorlauf-Akte

4.1 Zum Inhalt der IM-Vorlauf-Akte

4.2 Zur Registrierung des IM-Vorlaufes "Gregor"

5. Zum Vorgang einer "Operativen Personenkontrolle" (OPK) über Dr. Gysi

6. Fazit

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4. IM-Vorlauf-Akte

4.1 Zum Inhalt der IM-Vorlauf-Akte

Im Zusammenhang mit der Gewinnung neuer IM hatte das MfS zunächst einen IM-Vorlauf anzulegen. Hierbei mußte der Kandidat aufgeklärt und überprüft werden (vgl. unter Punkt 4 zur Richtlinie 1/79). Die aufgefundene archivierte Akte zu Dr. Gysi, AIM 9564/86, belegt, daß dieser von der HA XX vom 28.10.1980 bis zum 17.09.1986, also nahezu 6 Jahre, als IM-Vorlauf geführt wurde.

Wie aus dem in der Akte enthaltenen "Vorschlag zur Werbung eines IMS, entsprechend der Richtlinie14) Nr. 1/79" vom 27.11.1980 hervorgeht, wollte MfS-Offizier Lohr den IM-Vorlauf "Gregor" aber bereits nach 4 Wochen zu einem IM-Vorgang umwandeln, indem er Dr. Gysi "mündlich durch Handschlag" als IM mit dem Decknamen "Notar" verpflichtet.

Dieser "Vorschlag zur Werbung" wurde durch den Vorgesetzten Reuter, damals noch Leiter der Operativgruppe der HA XX/OG, der späteren HA XX/9, nicht bestätigt. Daß Reuter allerdings später selbst den Decknamen "Notar" für Dr. Gysi verwandte, wurde bereits ausgeführt. Der Werbungsvorschlag enthält gleichwohl eine Reihe bemerkenswerter Informationen, die für das Verständnis des Kontaktes von Dr. Gysi zur HA XX/9 (und umgekehrt) aufschlußreich sind.

1.  Dr. Gysi wurde 1978 während der operativen Bearbeitung von Dr. Rudolf Bahro im 0V "Konzeption" bekannt. In diesem Zusammenhang führte der direkt zuständige Offizier Lohr aus, daß Dr. Gysi "in der bisherigen Zusammenarbeit Zuverlässigkeit und eine hohe Einsatzbereitschaft (bewies), als er den Rechtsbeistand im Prozeß gegen Bahro übernahm und im Verfahren gegen Robert Havemann wegen Verstoßes gegen das Devisengesetz unter strenger Einhaltung der Konspiration über geplante Aktivitäten, über das weitere Vorgehen von Verbindungspersonen, Ziele und Absichten, über die Rechtslage und ihre Folgen, berichtete." (s. S. 373). Aufgefundene Aktenstücke über die "operative Bearbeitung" von Dr. Rudolf Bahro und Prof. Robert Havemann durch die HA XX/9 belegen diese Aussagen. Es gab vor dem Vorschlag zur Werbung eine Reihe von Gesprächskontakten zwischen Herrn Gysi und Mitarbeitern der HA XX/OG.

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MfS-Offizier Lohr gab hier eine sehr positive Beurteilung des bisherigen Kontaktes mit Dr. Gysi ab, da er Formulierungen gebrauchte, die nach dem üblichen Sprachgebrauch des MfS eher einem bereits aktiv tätigen IM zugeschrieben sein könnten.

Bis zum Zeitpunkt des Werbungsvorschlags hatte er zu Dr. Gysi bereits zwei Jahre Kontakt. Berücksichtigt man außerdem, wie Dr. Gysi im genannten "Vorschlag zur Werbung" insgesamt eingeschätzt wurde , dann hätten die dort genannten Eigenschaften von Dr. Gysi in der Regel bereits ausgereicht, um ihn sofort als IM zu verpflichten und nicht erst den "administrativen Umweg" über eine Registrierung als IM-Vorlauf zu gehen.

Die Art, wie der MfS-Offizier Lohr den IM-Kandidaten "Gregor" bereits 4 Wochen nach der Registrierung als IM-Vorlauf darstellte, legt den Schluß nahe, daß er die sogenannte "Vorlaufarbeit" mit dem IM-Kandidaten - also die Phase des Testens, ob sich jemand als IM eignet oder nicht - vorverlegt hatte, weil er sich beim Anlegen der IM-Vorlaufakte bereits sicher war, daß aus dem IM-Kandidaten "Gregor" auf Grund seiner bisherigen Zusammenarbeit mit der HA XX in kurzer Zeit der IM "Notar" werden würde.

Der IM-Kandidat "Gregor" wird im Werbungsvorschlag z. B. wie folgt charakterisiert (s. S. 376):

"Im Interesse der Einhaltung der Konspiration und der politisch operativen Notwendigkeit wurden dem Kandidaten bereits im Rahmen der Vorbereitung und Durchführung des Bahro-Prozesses die Aufgaben des MfS eingehend erläutert. Auf Grund der beruflichen Tätigkeit und der politischen Zuverlässigkeit erkannte der Kandidat schon damals die Notwendigkeit einer inoffiziellen Zusammenarbeit und Einhaltung der Konspiration. Dies bewies er durch die Übergabe positiv auswertbarer Informationen, seiner Einsatzbereitschaft und der durchgeführten Aufgaben.

Es ist deshalb vorgesehen, beim nächsten Treff und im Rahmen der ihm zu erteilenden Aufträge unter besonderer Beachtung der sich verschärfenden Klassenkampfsituation, dem Kandidaten nochmals die Bedeutung der Zusammenarbeit aufzuzeigen. Der Kandidat soll mündlich, durch Handschlag, verpflichtet werden und den Decknamen "Notar" erhalten" (S.).

2.  Wie sehr der MfS-Offizier Lohr von seinem IM-Kandidaten "Gregor" überzeugt gewesen sein muß, zeigt sich auch in seiner Begründung zur "geplanten Einsatzrichtung" und zur "operativen Notwendigkeit" der Werbung.

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"Auf Grund der politisch-operativen Notwendigkeit ist weiterhin geplant, daß der Kandidat den Rechtsbeistand des im 0V "Leitz" bearbeiteten Havemann, Robert aufrecht erhält und unter Einhaltung seiner anwaltlichen Pflicht, ihn in allen Rechtsfragen berät.

Die Zielstellung besteht darin, daß der Kandidat nach Abstimmung mit dem MfS

- Havemann politisch-ideologisch positiv beeinflußt, damit er feindliche Aktivitäten einstellt, Kontakte zu Publikationsorganen anderer Staaten und deren Korrespondenten auch über dritte Personen, entsprechend der ihm erteilten Auflage unterläßt (Urteil des Kreisgerichtes Fürstenwalde vom 08.05.1979) sowie Verbindungen zu negativ-feindlichen Personen im Innern der DDR einstellt.

- Pläne, Absichten und Vorhaben des Havemann, seiner Familienmitglieder, seines Freundes- und Bekanntenkreises im Rahmen seiner anwaltlichen Aufgaben in Erfahrung bringt mit dem Ziel, diese für eine positive Beeinflussung, operative Nutzung bzw. für Zersetzungsmaßnahmen zu nutzen. (Anmerkung des BStU: Entsprechend das findet sich in dem zu Prof. R. Havemann angelegten des 0V "Leitz".)

- alle vorgesehenen zivilrechtlichen, strafprozessualen u. a. Maßnahmen abstimmt, um eine politisch richtige Entscheidung zu treffen."

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3. Exkurs: Erfassung von Dr. Gysi durch die HVA

Dr. Gysi war zum Zeitpunkt der Herstellung des Kontaktes durch die HA XX/OG zu ihm "für die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), Abt. XI, aktiv erfaßt und wurde von 1975 - 1977 im Zusammenhang mit der Überprüfung eines Vorganges aus dem Operationsgebiet 15) für die Legende eines juristischen Beraters genutzt" (s. S. 373).

In einem Sachstandsbericht vom 17.02.1978, den die HVA/IX (Nordamerika, BRDeutscnland) verfaßte und der Bestandteil der IM-Vorlaufakte "Gregor" (s. S. 367) ist, wird dies noch etwas ergänzt. Es heißt dort;

"Gregor Gvsi ist als OPK-Vorgang für die Abteilung XI, Referat 1, MA 1121 registriert. G. wurde 1975 im Zusammenhang mit der Überprüfung eines Vorganges aus dem Operationsgebiet für die Legende eines juristischen Beraters inoffiziell zur Zusammenarbeit gewonnen.

Von der zeitweiligen Erarbeitung von Abwehrinformationen abgesehen, wurde er nur auf den obigen Vorgang bezogen bis 1977 genutzt. Die ihm gestellten operativen Aufgaben hat er umsichtig und parteilich gelöst. Seine operative Einbeziehung wurde 1977 mit Beendigung des Vorganges aus dem Operationsgebiet eingestellt. Da Gysi auf dem bisher eingesetzten Arbeitsgebiet keine operative Perspektive mehr hat, ist entschieden worden, ihn zu archivieren, was jetzt vollzogen werden soll.

gez. Referatsleiter

Oberstleutnant Klugow" (S. 367)

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Unterstrichen wird die inoffizielle Zusammenarbeit von Dr. Gysi mit der HVA XI außerdem auch noch durch eine auf einem Suchauftrag16) vom 06.02.1978 durch den Mitarbeiter der HVA III, Liboldt, handschriftlich vorgenommene Notiz, daß Dr. Gysi "für" die Abt. XI (der HVA) positiv erfaßt ist (vgl. ebenda, S. 315). "Mit ihm. so hält dieser Mitarbeiter weiter fest, wird eng gearbeitet."(Ebenda)

Bei der HVA entsprach die Kategorisierung inoffiziell genutzter Personen als OPK - im Unterschied zum Abwehrbereich - der dort herrschenden Praxis. Die OPK-Registrierung durch die HVA bezog sich weitgehend auch auf IM-Kandidaten.

Die inoffizielle Nutzung von Herrn Gysi durch die HVA kann nicht weiter analysiert werden, weil dazu kein Archivmaterial aufgefunden wurde. Bekanntlich konnte die HVA im Zeitraum von Frühjahr bis Sommer 1990 ihr operatives Schriftgut in eigener Zuständigkeit nahezu vollständig vernichten oder verbringen.

4.  Wie bereits erwähnt, wurde der "Vorschlag zur Werbung" nicht bestätigt. Aus der IM-Vorlaufakte ergeben sich dafür keine Gründe. Bezogen auf den Zeitraum vom Anlegen des IM-Vorlaufes "Gregor" bis zur Archivierung dieser Akte, immerhin sechs Jahre, sind darin keine nennenswerten Informationen über Dr. Gysi enthalten. Ein so langer Zeitraum für ehemalige IM-Vorläufe war im MfS unüblich. Dies ist im übrigen auch deshalb ungewöhnlich, weil während dieser 6 Jahre - wie oben mehrfach angeführt - zwischen den zuständigen MfS-Offizieren Reuter und Lohr und Dr. Gysi Kontakt bestanden hatte, der sich auch in Unterlagen niedergeschlagen hatte.

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Nach Aktenlage der IM-Vorlauf-Akte veränderte sich der Aufklärungsstand des Persönlichkeitsbildes von Dr. Gysi in sechs Jahren nicht.

Am 13.08.1986 schrieb MfS-Offizier Lohr einen von seinem Abteilungsleiter am 14.08.1986 gegengezeichneten "Abschlußbericht", in dem es u. a. heißt:

"Der IM-Vorlauf wurde im September 1980 angelegt. Die Kontaktaufnahme erfolgte auf Grund des operativ bearbeiteten Bahro, Rudolf (0V "Konzeption"), gegen den später ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde und dessen Rechtsbeistand der Kandidat übernahm. Zu seinen Mandanten gehörte auch der durch unsere Abteilung bearbeitete Robert Havemann. Obwohl der Kandidat in der ersten Zeit der mit ihm geführten Gespräche über die oben angeführten Personen Informationen über Verhaltensweisen und geplante Aktivitäten übergab, war festzustellen, daß er an seiner Schweigepflicht als Rechtsanwalt festhält. Von dieser Haltung war auch die Zusammenarbeit geprägt. Es muß eingeschätzt werden, daß die Hinweise zu Personen und Sachverhalten allgemeingültigen Charakter trugen, die, wie sich nach Überprüfungen herausstellte, größtenteils auch offiziell erlangt werden konnten. Um den Kandidaten nicht in Gewissenskonflikte mit seiner Schweigepflicht als Rechtsanwalt zu bringen, wurden die Vereinbarungen in größeren Abständen festgelegt, und es wurde vermieden, den Kandidaten mit konkreten Aufgaben zu betrauen. Auf Grund der beruflichen Stellung des Kandidaten ist auch künftig eine ersprießliche und konkrete Zusammenarbeit seitens des Kandidaten nicht zu erwarten. Es wird deshalb vorgeschlagen, die IM-Vorlauf-Akte in der Abteilung XII des MfS gesperrt abzulegen." (s. S. 378).

Diesen Darlegungen entsprach auch die Kurzbegründung auf dem "Beschluß über die Archivierung des

lM-Vorlaufes": "Er ist daher zur Aufklärung und Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit nicht geeignet" (vgl. S. 311).

Die IM-Vorlaufakte "Gregor" enthält weder vom damaligen Abteilungsleiter, Oberstleutnant Reuter, noch vom Leiter der HA XX, Generalleutnant Kienberg oder von einem seiner Stellvertreter einen Vermerk oder eine sogenannte Leiterentscheidung, warum diese Akte nicht schon 1980 archiviert worden war, nachdem der am 27.11.1980 geschriebene "Vorschlag zur Werbung eines IMS gem. RL Nr. 1/79" offensichtlich nicht bestätigt worden war.

In Kenntnis der bereits oben beschriebenen Dokumente, mit bezug zu GMS "Gregor", den IMS "Notar" oder "Sputnik", steht dies im Widerspruch zur tatsächlichen Praxis mit Dr. Gysi.

5.  Die HA XX/9 hatte offensichtlich stets ein großes Interesse an einer Zusammenarbeit mit Dr. Gysi, auch über den Zeitpunkt der Archivierung der Vorlaufakte hinaus. Aus der Tatsache, daß die HA

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XX/9 weiterhin Kontakte zu Dr. Gysi hatte, läßt sich schließen, daß die Beendigung des IM-Vorlaufs nicht den Abbruch der Gespräche zur Informationsgewinnung bedeuten sollte.

Sicher ist jedenfalls, daß der Leiter der HA XX, Generalleutnant Kienberg, diese Praxis billigte und offensichtlich über die Zusammenarbeit mit Dr. Gysi informiert war. Das wird aus einem Schreiben des Leiters der Abt. XII des MfS vom 16.07.84 an den Leiter der HA XX deutlich, indem von der Abt. XII auf die inzwischen bereits vier Jahre bestehende Vorlaufakte "Gregor" hinsichtlich ihrer langen Bearbeitungsdauer kritisch hingewiesen wurde (vgl. S. 384).

Daraufhin wurde dem Leiter der Abt. XII zum IM-Vorlauf "Gregor" mitgeteilt:

"Erfassung wird vorerst entsprechend Absprache mit Gen. Generalmajor Kienberg nicht verändert" (s. S.384)

6.  Dr. Gysi ist weder mündlich noch schriftlich als IM verpflichtet worden.

Für diesen Verzicht der HA XX/9, Herrn Dr. Gysi nicht als "IMS gem. RL Nr. 1/79" zu verpflichten, dürfte es gewichtige Gründe gegeben haben, die diese Entscheidung mit beeinflußten (u. a. soziale Herkunft, Elternhaus - Vater war u. a. Staatssekretär und Minister, persönlicher Umgangskreis, gewisse Unberechenbarkeit hinsichtlich seines weiteren beruflichen und politischen Werdeganges).

Die Entscheidung, das Material "Gregor" gesperrt abzulegen, ist grundsätzlich ein Ausdruck besonderer Geheimhaltung. Der Akteninhalt zum IM-Vorlauf "Gregor" allein rechtfertigte im Grunde genommen diese Sperrablage nicht. Außerdem sicherte sich die HA XX/9 mit dem Sperrvermerk die Notwendigkeit einer Information durch die Abteilung XII, sofern eine andere Diensteinheit an Dr. Gysi ein operatives Interesse entwickeln sollte.

Zusammenfassend läßt sich zur IM-Vorlaufakte weiter sagen, daß sie inhaltlich nicht der üblichen, durch eine Hauptabteilung praktizierten "zielstrebigen Aufklärung und Überprüfung der IM-Kandidaten" entspricht. Dies war offensichtlich entweder auch nicht notwendig oder die Akte ist vor ihrer Archivierung ausgedünnt worden.

Trotz fehlender IM-Verpflichtung hat es - wie oben dargelegt - eine besondere Art der Zusammenarbeit zwischen Dr. Gysi und der HA XX/9 gegeben. Insofern zeigt sich am speziellen Einzelfall eine weitere Facette der Arbeitsweise des MfS:

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Nicht allein die Registrierung als IM in der Abteilung XII charakterisiert eine inoffizielle Zusammenarbeit mit dem MfS. Wegen bestimmter Interessenlagen und unter bestimmten Umständen kann das MfS im Einzelfall eine andere Art der Aktenführung wählen. Nach den Erkenntnissen des Bundesbeauftragten wurden solche Regelungen nur äußerst selten angewendet.

4.2 Zur Registrierung des IM-Vorlaufes "Gregor"

Laut Beschluß (Formblatt 1a), welcher in der aufgefundenen Akte mit der Archiv-Nr. 9564/86 enthalten ist, gab der damalige Leiter der Operativgruppe (OG) der HA XX, Oberstleutnant Reuter, am 18.09.1980 seine Einwilligung, daß der Mitarbeiter der HA XX/OG. Lohr, für sich in der Abt XII des MfS einen IM-Vorlauf mit dem vorläufigen Decknamen "Gregor" registrieren lassen konnte. Aus dem Beschluß geht weiter hervor, daß sich dieser Vorlauf auf Dr. Gysi, PKZ 160148430039, bezieht. Nach den Bestimmungen des MfS war in Verbindung mit der Registrierung dieses IM-Vorlaufes Dr. Gysi gleichzeitig in der Abt. XII "aktiv zu erfassen". Die aktive Erfassung von Dr. Gysi erfolgte am 28.10.1980. Zuvor hatte es zwischen der HA XX/OG und der HVA XI (Hauptverwaltung Aufklärung, Abt. XI), Tätigkeitsfeld Nordamerika und BR Deutschland, einen Informationsaustausch über den Charakter der passiven16a) Erfassung von Dr. Gysi durch die HVA XI gegeben, d. h., diese Diensteinheit hatte zu Dr. Gysi unter der Archiv-Nr. AOPK 2185 (Archivierte Operative Personenkontrollakte) operatives Schriftgut archiviert (s. S. 321). Die von der HVA XI archivierte OPK-Akte zu Dr. Gysi konnte nicht aufgefunden werden.

Zur Realisierung der erneuten aktiven Erfassung Dr. Gysis mußten im Zusammenspiel der HVA, der HA XX sowie der Abt. XII (Zentrale Auskunft/Speicher) des MfS eine Reihe administrativer Maßnahmen durchgeführt werden, deren Erledigung ca. 6 Wochen in Anspruch nahm. Daraus erklärt sich die Differenz zwischen der Bestätigung des Beschlusses durch den Leiter der HA XX/ OG Reuter (18.09.1980) und der in der Abt. XII vorgenommenen Erfassung (28.10.1980). Von diesem Zeitpunkt an war Dr. Gysi ein sogenannter IM-Kandidat. Das grundlegende Ziel einer Erfassung von Personen als IM-Kandidat bestand immer darin, diese Personen zu prüfen, ob sie in der Lage und auch bereit wären, für das MfS von einem bestimmten

Zeitpunkt an als Inoffizieller Mitarbeiter tätig zu sein, der Informationen liefert und/oder Einfluß im Sinne des MfS auf Personen und Vorgänge nimmt. Diese Prüfung schloß in der Regel mit der Entscheidung für oder gegen eine Werbung als Inoffizieller Mitarbeiter ab. Dies zu prüfen und zu entscheiden war einzig und allein Sache des MfS und erfolgte ohne direktes Zutun des IM-Kandidaten.

Die Vergabe eines vorläufigen Decknamens durch den Führungsoffizier ohne Kenntnis des Kandidaten war die für einen IM-Vorlauf übliche Praxis, aber nicht ausdrücklich angewiesen. Sie war Ausdruck des ständigen Bestrebens des MfS, auch "nach innen" die Konspiration und Geheimhaltung möglichst durchgängig zu gewährleisten. In diesem Fall stimmte der Vorname des Kandidaten mit dem Decknamen "Gregor" überein, was nicht unüblich war.

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Die Registrierung des IM-Vorlaufes "Gregor" am 28.10.1980 entspricht auch einer Eintragung im sogenannten Registrierbuch der Abt. XII, in welchem alle in dieser Abteilung seit 1953 bis zu ihrer Auflösung vorgenommenen Registrierungen nachweisbar erhalten geblieben sind. Mittels des Registrierbuches war zu gewährleisten, daß jede Registriernummer in jedem Registrierzeitraum (1 Jahr) und in jedem Registrierbereich nur einmal vergeben wird. Gleichzeitig war damit der Ausgangspunkt einer Registrierung sowie die zu diesem Zeitpunkt bestehende operative Verantwortlichkeit dokumentiert.

Mit der Registrierung des IM-Vorlaufes "Gregor" war entsprechend der 1. Durchführungsbestimmung zur RL Nr. 1/79 (letzte gültige IM-Richtlinie) zwingend die Bereitstellung des 1. Bandes des Teiles l von IM-Akten, der sogenannten Personalakte, vorgeschrieben. Dies galt unabhängig davon, ob die betreffenden Personen später IM wurden oder nicht.

Der Teil l der IM-Akten war zu führen

" - als IM-Vorlaufakte über den Prozeß der Gewinnung als IM

-    kombinierte Personal- und Arbeitsakte bei IMK sowie bei solchen IM, die aufgrund ihrer Einsatzrichtung und operativen Möglichkeiten keine schriftlichen Berichte übergeben bzw. zu denen in der Zusammenarbeit nur vereinzelt Treffberichte anfallen." (1. Durchführungsbestimmung zur Richtlinie Nr. 1/79,8.9).

Nicht zulässig war es, andere als diese formgebundenen Akten für IM-Vorläufe bzw. für IM zu benutzen. Es durften nur die von der Abt. XII zur Verfügung gestellten Aktenhefter verwendet werden, in diesem Fall also der Teil l. Dieser ist jetzt noch vorhanden und mit der Reg.-Nr. XV/5647/80 und mit der Archiv-Nr. 9564/86 versehen.

Von Diensteinheiten des MfS vorgenommene Erfassungen von Personen waren in einer Personenkartei (Karteikarte F 16) nachzuweisen, wobei Name, Geburtsname, PKZ sowie Geburtsort festzuhalten waren.

Gleichzeitig war gemäß der Dienstanweisung Nr. 2/81 (Erfassung/Registrierung) vorgeschrieben, in einer sog. Arbeitskartei (Karteikarte Form 22) die Vorgangsart, also in diesem Falle die Kategorie IM-Vorlauf. nachzuweisen.

Beide Nachweise zum IM-Vorlauf "Gregor" sind bisher nicht aufgefunden worden. Ebenso fehlt das sog. Vorgangsheft von MfS-Offizier Lohr, in dem er seine "operative Verantwortlichkeit" für den in der Abt. XII registrierten IM-Vorlauf "Gregor" mit Unterschrift zu quittieren hatte. Diese Unterlagen, daran braucht in Anbetracht gesicherter Erkenntnisse über die "Speicherführungsprinzipien" im MfS und aller bisherigen Erfahrungen nicht gezweifelt zu werden, muß es gegeben haben.

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5. Zum Vorgang einer "Operativen Personenkontrolle" (OPK) über Dr. Gysi

Im Archivbestand der Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG) der Hauptabteilung XX sowie der Abt. XII befinden sich einige Dokumente, die belegen, daß Dr. Gysi am 05.09.1986, also bereits ca. 3 Wochen nachdem der Beschluß zur Archivierung seiner Vorlaufakte umgesetzt worden war, in einer OPK erneut aktiv erfaßt wurde.17)

Darüber liegen vor:

- ein Eröffnungsbericht zur OPK "Sputnik" vom 01.09.1986,

- ein "Ergänzungsbericht zur OPK 'Sputnik' gegen Gysi, Gregor" vom 19.09.1986,

- eine sogenannte Arbeitskarteikarte F 22, in der u. a. die Vorgangsart (OPK), der Deckname, die Registriernummer XV 4628/86 sowie die vorgangsführende Diensteinheit (DE) nachgewiesen wurden,

- eine von der F 22 abgeleitete interne Auskunftskarteikarte F 22 a,

- eine weitere "Arbeitskarteikarte" F 77, die einer zugriffsbereiten Obersicht über den Bestand an registrierten Vorgängen einzelner Diensteinheiten sowie der Erarbeitung von entsprechenden Statistiken diente (s. S. 385) sowie

- einzelne Dokumente, die Bestandteil dieser Akte gewesen sein müssen (s. S 390-393).

Die Personennachweiskarte F 16, die Dr. Gysi als eine im Rahmen der OPK erfaßte Person ausweist sowie die eigentliche OPK-Akte wurde bisher nicht aufgefunden.

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Die Durchführung von OPK war in einer Richtlinie (zuletzt die RL Nr. 1/81) allgemein geregelt.

Auf Dr. Gysi bezogen, konzipierte der bis dahin für den IM-Vorlauf "Gregor" zuständige Lohr in dem sogenannten "Eröffnungsbericht" vom 01.09.1986 für die OPK "Sputnik" nachstehend aufgeführte konkrete Zielsetzungen:

" 1. Umfassende Aufklärung der Personen und seines Umgangskreises im beruflichen und Freizeitbereich. Dazu sind besonders auch inoffizielle Möglichkeiten zu nutzen.

2. Klärung des Charakters der Beziehungen zu seinen Klienten unter dem Gesichtspunkt

-  handelt es sich um echte Rechtshilfeersuchen oder versuchen Personen des politischen Untergrundes, gezielt und abgestimmt den Rechtsanwalt für ihre feindlichen Absichten zu mißbrauchen

-  Erarbeitung von Hinweisen zur Klärung des Charakters der Beziehungen des Rechtsanwaltes zu operativ bekannten und feindlich eingestellten Personen im Freizeitbereich

3. Aufklärung der Verbindungen zu Personen aus dem NSW (nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet - BStU), besonders zu den in der DDR akkreditierten Korrespondenten und Mitarbeitern der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR.

-  Besonders ist zu prüfen, ob angeführte Kontakte mit Wissen der vorgesetzten Dienststelle (von Dr. Gysi - BStU) unterhalten werden oder ob sie rein privaten Charakter tragen;

- in Abstimmung mit der HA II/12 und 13 sind die Kontakte nach einer möglichen geheimdienstlichen Tätigkeit aufzuklären und entsprechende

Diese wurden am 19.09.1986 noch weiter präzisiert, wobei MfS-Offizier Lohr insbesondere "die operativ interessanten Verbindungen" von Dr. Gysi hervorhob (s. S. 387).

Oberstleutnant Lohr war inzwischen stellv. Leiter der HA XX/9 geworden und somit auch befugt, OPK anzuleiten, ohne sich die Bestätigung dafür durch seinen Vorgesetzten einholen zu müssen. Beide Eröffnungsberichte enthalten auch keinerlei Bestätigungsvermerke.

Wird berücksichtigt, daß Dr. Gysi als IM-Vorlauf "Gregor" der HA XX/9 den ranghöchsten Offizieren dieser Diensteinheit, dem Abteilungsleiter und seinem Stellvertreter, bereits 6 Jahre lang bekannt war, dann wirkt eine solche Zielstellung der OPK wie "umfassende Aufklärung der Person und seines Umgangskreises..." unlogisch bzw. aufgesetzt. Die umfassende Aufklärung der Person wäre bereits ein wichtiges Anliegen der IM-Vorfaufakte gewesen und hätte aus den bisherigen zahlreichen Kontakten bereits ersichtlich sein müssen. Bemerkenswert ist aber auch, daß in dem Eröffnungsbericht zur

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OPK, der sonst übliche Hinweis auf eine bisherige Registrierung als IM oder IM-Vorlauf und der Bezug zur bisherigen Zusammenarbeit fehlten.

Berücksichtigt man weiter, daß zwischen dem Archivieren des IM-Vorlaufes "Gregor" - der zudem "gesperrt" wurde, wodurch bereits gewisse Kontrollmöglichkeiten der HA XX/9 weiterbestanden - und der Eröffnung der OPK "Sputnik" lediglich 3 Wochen vergingen, offenbart sich darin die Absicht der HA XX/9 Dr. Gysi weiterhin "aktiv erfaßt" (vgl. Erläuterung Fußnote 17) zu haben. Damit war für die HA XX/9 das alleinige Recht gesichert, mit Dr. Gysi weiterhin Kontakt zu halten, den die aus dieser Zeit stammenden Unterlagen im übrigen belegen (vgl. Im "Sputnik" im "Operativplan" vom 13.06.1988 s. S. 291 und Finanzbelege oben unter Punkt 3).

Mit Archivierung der IM-Vorlaufakte "Gregor" hätte andernfalls für die HA XX/9 vom Zeitpunkt der Archivierung an nach den Arbeitsprinzipien des MfS die Gefahr bestanden, daß die HA XX/9 aus ihrer operativen Sicht nicht mehr die notwendige "alleinige" Verfügung über Dr. Gysi behielte und außerdem nicht mehr gesichert gewesen wäre, zu Dr. Gysi anfallende wichtige Informationen auch von anderen Diensteinheiten zu erhalten.

Damit war unter veränderter Registrierung ein Zustand erhalten geblieben, in dem die HA XX/9 mit Dr. Gysi weiter zusammenarbeiten konnte wie bisher.

Der für die HA XX/9 vorteilhafte Unterschied zur Erfassung auf der Grundlage des IM-Vorlaufes bestand eigentlich nur darin, daß jetzt für die Mitarbeiter in anderen Diensteinheiten des MfS kaum noch Rückschlüsse auf eine Nutzung von Dr. Gysi durch das MfS möglich waren.

Nach den in der Behörde vorliegenden Erkenntnissen stand im Regelfall eine OPK nicht so sehr im Blickpunkt des Interesses von Vorgesetzten im MfS wie ein IM-Vorlauf, noch dazu, wenn in ihm ein bekannter Rechtsanwalt der DDR als IM-Kandidat erfaßt war. Das heißt, für die HA XX/9 hatte sich der MfS-interne Umgang mit Dr. Gysi vielleicht sogar erleichtert. Die OPK-Akte "Sputnik" ist nach Lage der Dinge vernichtet worden.

Selbst aus den fragmentarisch vorhandenen Unterlagen aus der Periode der OPK-Erfassung wird deutlich, daß das MfS auch während dieser Zeit mit Dr. Gysi zusammenarbeitete und dieser Informationen lieferte, die nach Lage der Akten das MfS so von keiner anderen Person erhalten haben konnte (vgl. S. 292).

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Mit der Einleitung der OPK über Herrn Gysi wurden zu ihm gernäß der Dienstanweisung Nr. 1/80 in der Zentralen Personendatenbank des MfS (ZPDB) in der Sachverhaltsart 2.2 "Verbindungen zu gegnerischen Stellen" Informationen gespeichert, wobei hier keine weitere Erklärung über den konkret verwendeten Deskriptor mehr möglich ist18).

Exkurs: Zu einem nachträglichen Deutungsversuch eines ehemaligen MfS-Offiziers

Lohr, der frühere Stellvertretene Abteilungsleiter, erklärte dazu am 06.02.1992 in einem öffentlich gewordenen Schreiben an Dr. Gysi:

"Auf jeden Fall konnte die Akte über die OPK "Sputnik" nicht bleiben, nachdem Sie Vorsitzender der SED geworden waren. Aus unserer Sicht hätten Sie unser höchster Vorgesetzter werden können. Sicherlich verstehen Sie, daß wir uns unter diesen Umständen nicht nachweisen lassen wollten, wie umfangreich wir Sie kontrolliert hatten, deshalb wurde die OPK 'Sputnik' vernichtet." (S. 10 und 11 des genannten Schreibens)

Diese Argumentation im Nachhinein überzeugt nicht. Keinem noch so "höchsten Vorgesetzten" aus dem Parteiapparat der SED, soweit er nicht selbst im MfS tätig, war es jemals gestattet, Kenntnis über eine konkrete Materiallage zu bekommen oder selbst in operative Materialien Einsicht nehmen zu können. Dieses Prinzip der Einhaltung der Konspiration im MfS hätte auch Herr Gysi nicht durchbrechen können, selbst wenn er in eine sehr hohe Position im Parteiapparat gelangt wäre.

Offensichtlich ging es zum damaligen Zeitpunkt eher um die Verwischung von Spuren der Zusammenarbeit.

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6. Fazit

1.  Die vorstehenden Ausführungen mit den beigefügten Belegen zeigen, daß das MfS Dr. Gysi die Decknamen "Gregor", "Notar" und "Sputnik" zuordnete. Dr. Gysi ist demnach identisch mit der Person, die vom MfS (HA XX/9) als IM-Vorlauf bzw. GMS "Gregor", GMS bzw. IM "Notar" oder IM "Sputnik" bezeichnet wurde.

     Die Recherche hat ergeben, daß die HA XX/9 diese Decknamen ausschließlich Dr. Gysi  zugeordnet hat.

     Ob Dr. Gysi diese Decknamen und die im MfS gebräuchlichen Termini kannte, ist offen. Gleichwohl muß es Dr. Gysi klar gewesen sein, daß seine Gesprächspartner MfS-Offiziere waren.

2.  Die Analyse der aufgefundenen Dokumente erbrachte keine Anhaltspunkte dafür, daß die von der HA XX/9 als inoffiziell eingestuften Informationen, also jene, die als Quellenhinweis mit einem der o. g. genannten Decknamen versehen waren, nicht von Dr. Gysi stammen.

3.  Auf Grund der in diesen Informationen genannten Personen, der kurzen zeitlichen Abstände zwischen Ereignis und der schriftlichen Abfassung der Berichte im MfS sowie nicht zuletzt auf Grund der Dialogform und des auf Mandanten von Dr. Gysi zugeschnittenen speziellen Inhalts dieser Informationen muß davon ausgegangen werden, daß diese das Ergebnis von direkt geführten Gesprächen zwischen Dr. Gysi und den MfS-Offizieren waren.

4.  Der Leiter der HA XX/9, Oberst Reuter und sein langjähriger Stellvertreter, Oberstleutnant Lohr, bezeichnen Dr. Gysi in Führungsdokumenten, Berichten, Informationen, Finanzbelegen sowie in persönlichen Aufzeichnungen während der gesamten Zeit seiner Erfassung und sogar in den beiden vorangegangenen Jahren als einen inoffiziellen Mitarbeiter, als GMS oder IM. Die von Anbeginn an durch diese beiden verantwortlichen MfS-Offiziere erfolgte abteilungsinterne Bezeichnung als IM oder GMS entsprach offensichtlich ihrer Wertung des Kontaktes zu Dr. Gysi. Sie ergab sich aus der Tatsache, daß sie von Dr. Gysi Informationen aus oppositionellen Kreisen erhielten und Möglichkeiten zur Beeinflussung von Oppositionellen sahen.

     Da die genannten MfS-Offiziere Dr. Gysi über einen Zeitraum von ca. zehn Jahren als IM oder GMS bezeichneten, kann ausgeschlossen werden, daß es sich hier um irrtümliche Bezeichnungen handelt. Im übrigen wurden diese Bezeichnungen von beiden leitenden Offizieren aus der HA XX/9 auch unabhängig voneinander verwendet. Es kann also davon ausgegangen werden, daß sich darin, unabhängig von der Erfassungsart als IM-Vorlauf "Gregor" von 1980 - 1986 und gleich darauf folgend als OPK "Sputnik", der inoffizielle Charakter einer 10jährigen Zusammenarbeit der HA XX/9 mit Herrn Dr. Gysi ausdrückt.

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5.  Dr. Gysi war von der HA XX/9 von 1980 an "aktiv" erfaßt, zuerst als IM-Vorlauf und danach in einer OPK. Damit hatte diese Diensteinheit für Dr. Gysi die "operative Verantwortung" übernommen, in deren Rahmen er vom MfS genutzt und mit ihm zusammengearbeitet wurde. Weil er den Rechtsbeistand von Oppositionellen in der DDR übernommen hatte, erhielt er aus der Sicht der HA XX/9 offensichtlich eine große operative Bedeutung. Bezogen auf die jeweiligen Mandanten konnte nur er in diesem Zusammenhang bestimmte personenbezogene Informationen liefern, die für die HA XX/9 bei ihrem weiteren Vorgehen von besonderer Wichtigkeit sein konnten. Von daher erschien es im MfS offenkundig zweitrangig, daß Dr. Gysi nicht als IM verpflichtet und förmlich registriert wurde.

     Inwieweit es bei dieser Sachbehandlung eine Rolle spielte, daß der HA XX/9 bereits seit Jahren Hinweise über "kritische" Äußerungen von Herrn Gysi vorlagen, ist aus den Akten nicht zu klären. So informierte z. B. der Leiter der HA Vll am 25.08.1979 den Stellvertreter von Minister Mielke, Mittig, daß "der Rechtsanwalt Gregor Gysi sich mit einer Eingabe an das Ministerium des Innern gewandt (hat), wo er die Rechtmäßigkeit einiger Maßnahmen gegen Havemann anzweifelt" (s. S. 66, weiterer Beleg S. 336).

6.  Mit den Decknamen "Gregor" und "Notar" versehene Informationen sind keineswegs Beleg dafür, daß lediglich eine Materialsammlung existierte, in der Informationen aus verschiedenartigen Quellen mit obigen Decknamen versehen und gesammelt wurden. Es gibt auch keinen Beleg dafür, daß die Dr. Gysi zugeschriebenen Informationen aus Abhörmaßnahmen stammen. Die Behauptung, hinter "Gregor" oder "Notar" verberge sich eine solche Materialsammlung, steht im Gegensatz zur Aktenlage sowie zu den beim Bundesbeauftragten vorliegenden Erkenntnissen zur Arbeitsweise der HA XX.

7.  Die sechs vorgefundenen Finanzbelege gruppieren sich zeitlich um die zweite Dezemberhälfte (3mal) und um die zweite Januarhälfte (3mal) der jeweiligen Jahre. Den üblichen Gepflogenheiten des MfS entsprechend, könnte es sich hierbei um die Übergabe von Präsenten anläßlich des Jahreswechsels sowie des Geburtstages von Dr. Gysi (16.01.1948) handeln.

     Damit würde aber auch zugleich deutlich, daß der zuständige MfS-Offizier Lohr die Übergabe von Präsenten auf eher unverfängliche Anlässe beschränkte. Dies entspricht einer durchaus üblichen Praxis des MfS.

     Die Ausgabe von Operativgeld unter Berufung auf Registriernummern, die vom MfS nur Dr. Gysi zugeordnet wurden, belegen des weiteren die Ausführungen über den inoffiziellen Charakter der Zusammenarbeit. Besonders deutlich zeigt sich dies bei der Verwendung derartiger Gelder für "Sputnik", also der Übergabe von Präsenten an eine Person, die dem Anschein nach zu diesem

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      Zeitpunkt unter einer Operativen Personenkontrolle steht, also "operativ" bearbeitet wird. (Im MfS war es nicht üblich, daß "operativ bearbeitete" Personen mit Präsenten beschenkt wurden.) Der Wert der Präsente lag unter dem Durchschnitt des in der HA XX/9 üblichen.

8.  Der besondere Charakter der Zusammenarbeit zwischen Dr. Gysi und der HA XX/9 kommt auch darin zum Ausdruck, daß die HA XX/9 nicht für das Rechtsanwaltskollegium Berlin, dessen Vorsitz Herr Dr. Gysi 1988 übernahm, "operativ zuständig" war. Diese Zuständigkeit oblag allein der Abt. XX/1 der Bezirksverwaltung (BV) Berlin, d. h. einer der MfS-Zentrale nachgeordneten Diensteinheit. Diese nachgeordnete Abteilung und nicht die HA XX/9 des MfS war verantwortlich für das - wie es im Sprachgebrauch des MfS hieß - "offizielle Zusammenwirken" mit dem Rechtanwaltskollegium Berlin.

9.  Die "operative Zuständigkeit" der Abt. XX/1 der BV Berlin wird z. B. dadurch unterstrichen, daß Herr Dr. Gysi bis September 1980, also bis er von der HA XX/9 als IM-Vorlauf erfaßt wurde, in einem sogenannten Sicherungsvorgang19) der Abteilung XX der BV Berlin bereits aktiv erfaßt war, was deren operativen Zuständigkeit entsprach (s. S. 320).

     Die dabei seinerzeit angefallenen Unterlagen sind bei der "Übernahme" von Dr. Gysi durch die HA XX/9 am 22.09.1980 durch den MfS-Offizier Reuter für die IM-Vorfaufakte übernommen worden. Die obengenannte Erfassung in einem Sicherungsvorgang unterscheidet sich also deutlich von jener Erfassung durch die HA XX/9 des MfS, die für die Bearbeitung von Oppositionellen zuständig war, wie aus der lM-Vorlaufakte "Gregor", zu entnehmen ist.

     Diese Schritte, also die Übernahme von Dr. Gysi betreffenden Materialien der Abt. XX/1 der BV Berlin sowie die "aktive" Erfassung von Dr. Gysi durch die HA XX/9 wären nicht erforderlich gewesen, hätten die MfS-Offiziere lediglich die Absicht gehabt, mit einem Rechtsanwalt Probleme offiziell klären zu wollen. Dies wäre bei Beachtung der Zuständigkeit der Abt. XX/1 der BV Berlin möglich gewesen, wobei die HA XX/9 dies dann allerdings nicht ohne Einwilligung20) der zuständigen Diensteinheit Kontakte zu Dr. Gysi hätte tun können.

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10. Andererseits hätte Dr. Gysi selbst die Möglichkeit gehabt, wenn er als Rechtsanwalt im Rahmen der anwaltschaftlichen Vertretung seiner Mandanten mit dem MfS etwas "offiziell" zu klären beabsichtigte, sich an die zuständige Untersuchungsabteilung (HA IX) zu wenden21).

     Wie aus den Absprachen zwischen Dr. Gysi und einem Mitarbeiter der HA IX (Zentrale Untersuchungsabteilung) (vgl. Fußnote Nr. 18) im Zusammenhang mit Ereignissen in Güstrow hervorgeht, müßte ihm diese Möglichkeit und damit auch der Unterschied zur inoffiziellen Zusammenarbeit mit der HA XX/9 bekannt gewesen sein (s. S. 134).

11. Zudem muß Dr. Gysi aus seiner langjährigen Tätigkeit im Rechtsanwaltskollegium Berlin, zuletzt als dessen Vorsitzender, bekannt gewesen sein, daß die MfS-Offiziere Reuter und Lohr nicht die offiziellen Vertreter der Untersuchungsabteilung des MfS (HA IX) waren.

 

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Fußnoten

14) Richtlinie "für die Arbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) und Gesellschaftlichen Mitarbeitern für Sicherheit (GMS)" aus dem Jahr 1979. Sie war bis zur Auflösung des MfS gültig.

15) "Operationsgebiet" ist die MfS-Bezeichnung für das westliche Ausland, einschließlich der BR Deutschland.

16) Suchaufträge wurden im MfS grundsätzlich dann ausgelöst, wenn eine an einer bestimmten Person "operativ interessierte" Diensteinheit Ober die für Personenauskünfte zuständige Abt. XII verbindliche Auskunft zum konkret gegebenen Erfassungsverhältnis beim MfS erhalten wollte. Bei bereits vorliegenden Erfassungen war es der anfragenden Diensteinheit prinzipiell nicht gestattet, gegenüber der betreffenden Person "operativ aktiv" zu werden.

16a) Generell galten Personen, zu denen Schriftgut im MfS archiviert wurden, als passiv erfaßt.

17) Ihrem Wesen nach bedeutete eine "aktive Erfassung*, daß die erfassende Diensteinheit vom Zeitpunkt der Erfassung an für die "erfaßte" Person eine sogenannte "operative Verantwortung" übernahm, infolgedessen vom Grundsatz her nur diese DE gegenüber der "erfaßten" Person irgendwie geartete aktive Maßnahmen einleiten durfte. Außerdem waren mit der Herstellung eines "aktiven Erfassungsverhartnisses" wiederum andere DE ihrerseits "verpflichtet", zu der erfaßten Person bei ihnen evtl. vorhandene oder neu aufkommende Informationen an die erfassende DE zu übersenden.

18) Der Rahmenkatalog, ein Teil der DA Nr. 1/80. hatte innerhalb der Sachverhaltsarten nur immer einen Grundvorrat an Deskriptoren vorgegeben, die in der jeweiligen Diensteinheit entsprechend der dortigen Situation zu präzisieren bzw. neu festzulegen waren.

19) Bei einem Sicherungsvorgang besteht vorrangig das Ziel, über Personen "vorbeugend* Informationen mit "sicherheits-politischer Relevanz zu erhalten.

20) Eine "operative Zuständigkeit" konnte durch eine "höhere Ebene" nicht aufgehoben werden.

21) Nach § 68 der StPO der DDR war das MfS auch offizielles Untersuchungsorgan in Strafverfahren.

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Dieses Dokument wurde zuletzt aktualisiert am 03.08.06
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