Buskeismus

Fall Gysi

 

 

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Teil 1/6
Inhalt
Teil 2/6
1. - 5.3.
Teil 3/6
6. - 6.1.7.
Teil4/6
6.2. - 6.12.
Teil 6/6
Gysi

Die roten Markierungen sind von Rolf Schälike und werden kommentiert.

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Teil 5/6

7. Erfassungsverhältnisse Dr. Gysis beim MfS

    7.1 Erfassung in einem OPK-Vorgang der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA)

    7.2 Erfassung in einem Sicherungsvorgang der BV Berlin

         7.2.1 Formale Erfassung bei der Abt. XX/1 BV Berlin

         7.2.2 Tatsächliche Zusammenarbeit mit der HA XX/OG

        7.3 Erfassung durch die HA XX/OG, der späteren HA XX/9

        7.3.1 Erfassung im IM-Vorlauf "Gregor"

        7.3.2 Erfassung in der OPK "Sputnik"

8. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

Deutscher Bundestag

13.Wahlperiode.

Drucksache 13/10893
29.05.98
Sachgebiet 0000.
 

Bericht.

des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
(1.Ausschuß)

zu dem Überprüfungsverfahren des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi gemäß § 44 b Abs. 2 Abgeordnetengesetz

(Überprüfung auf eine Tätigkeit oder eine politische Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik).

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7. Erfassungsverhältnisse

Dr. Gysis beim MfS Dr. Gysi war von 1975 bis 1989 beim MfS aktiv erfaßt.

Er stand dabei in verschiedenen Erfassungsverhältnissen.

Von 1975 bis 1978 war Dr. Gysi in einer Operativen Personenkontrolle (OPK) der Abteilung XI der Hauptverwaltung Aufklärung aktiv erfaßt. Danach wurde er bis Oktober 1980 in einem Sicherungsvorgang der Abteilung XX/1 der Bezirksverwaltung (BV) Berlin des MfS erfaßt, bei der alle Rechtsanwälte Berlins geführt wurden, die in keinem anderen Erfassungsverhältnis standen. Vom 28. Oktober 1980 bis zum 17. September 1986 folgte die Erfassung im IM-Vorlauf "Gregor" bei der HA XX/OG, der späteren HA XX/9, des MfS, danach schloß sich die Erfassung in der OPK "Sputnik" ebenfalls bei der HA XX/9 des MfS an.

Die aktive Erfassung von Personen erfolgte förmlich in der Abteilung XII des MfS (Auskunft, Archiv, Registriernachweis) im Auftrag der operativ verantwortlichen Diensteinheit. Diese mußte unter Verwendung von im MfS üblichen Abkürzungen - wie IM-Vorlauf, IM oder OPK - den Grund der Erfassung mit angeben.

Festgelegt war, daß eine Person nicht gleichzeitig in verschiedenen aktiven Erfassungsverhältnissen stehen konnte. Die inoffizielle Zusammenarbeit einer anderen Diensteinheit mit dieser Person setzte dann eine vorherige Abstimmung mit der zuständigen Diensteinheit voraus. Nach Auskunft des Bundesbeauftragten läßt die Art der aktiven Erfassung grundsätzlich Rückschlüsse über das "operative Verhältnis " zu, in dem die betreffende Person zum MfS stand. Er hat ergänzend ausgeführt, daß in einzelnen Fällen die Erfassungsart jedoch nicht immer das wirkliche Verhältnis zwischen der Person und dem MfS widerspiegelt. Das tatsächliche Verhältnis ergibt sich dann wesentlich aus dem Inhalt der den Erfassungen zuzuordnenden Unterlagen (siehe hierzu insgesamt BStU, Ergänzender Bericht, S. 10).

7.1 Erfassung in einem OPK-Vorgang der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA)

Der Bundesbeauftragte hat Unterlagen vorgelegt, die die Erfassung von Dr. Gysi in einem OPK-Vorgang der "Hauptverwaltung Aufklärung" (HVA) von 1975 bis 1978 dokumentieren.

Den unter der Bezeichnung HVA zusammengefaßten Diensteinheiten des Ministeriums für Staatssicherheit oblag die Beschaffung geheimer Informationen politischen, wirtschaftlichen, technologischen und militärischen Charakters aus dem "Operationsgebiet", womit in erster Linie die Bundesrepublik Deutschland einschließlich West-Berlin gemeint war. Die HVA war jedoch auch in die Überwachungs- und Unterdrückungsmechanismen des Ministeriums für Staatssicherheit im Inneren eingebunden. Qualitative Unterschiede zwischen "Aufklärung" und "Abwehr", zumal wenn sie mit moralischen und politischen Wertungen verbunden werden, lassen sich dabei nicht begründen, da ihre Aktivitäten demselben Ziel zu dienen hatten. So hat die HVA sowohl im Operationsgebiet als auch in der DDR eigene IM`s unterhalten (siehe hierzu den Bericht Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Drucksache 12/7820, S. 224).

Die Erfassung Dr. Gysis in einem OPK-Vorgang der HVA wird vor allem durch einen Sachstandsbericht der HVA/Abteilung XI vom 17. Februar 1978 (Dok. Nr. 115), der sich in der zu Dr. Gysi angelegten IM-Vorlauf- Akte gefunden hat, dokumentiert. Darin heißt es: "Gregor Gysi ist als OPK-Vorgang für die Abteilung XI, Referat 1, MA 1121 registriert. G. wurde 1975 im Zusammenhang mit der Überprüfung eines Vorgangs aus dem Operationsgebiet für die Legende eines juristischen Beraters inoffiziell zur Zusammenarbeit gewonnen. Von der zeitweiligen Erarbeitung von Abwehrinformationen abgesehen, wurde er nur auf den obigen Vorgang bezogen bis 1977 genutzt. Die ihm gestellten operativen Aufgaben hat er umsichtig und parteilich gelöst. Seine operative Einbeziehung wurde 1977 mit Beendigung des Vorgangs aus dem Operationsgebiet eingestellt. Aufgrund einer Anfrage des Gen. H[.] der HA XX/1 wurde Gysi durch den damaligen Mitarbeiter dieses Vorgangs Gen. Major B[.] für die Lösung bestimmter Abwehraufgaben der HA XX zeitweilig zur Verfügung gestellt. Die Rücksprache mit Gen. M[.], Referatsleiter der HA XX/1 am 17.2.78 ergab, daß Gysi für eine Rechtsanwaltsanalyse im DDR-Maßstab genutzt worden sei. Gen. M[.] brachte gleichzeitig zum Ausdruck, daß sie an einer inoffiziellen Zusammenarbeit mit Gysi nicht interessiert seien, da er ihnen dafür ungeeignet erscheint. Da Gysi auf dem bisher eingesetzten Arbeitsgebiet keine operative Perspektive mehr hat, ist entschieden worden, ihn zu archivieren, was jetzt vollzogen werden soll." In einem Suchauftrag der HVA III/7 vom 6. Februar 1978 (Dok. Nr. 91) mit Bezug auf Gregor Gysi wird vermerkt: "ist für Abt. XI pos. erfaßt. Mit ihm wird eng zusammengearbeitet." Die HVA III war für die "Aufklärung von politischen Strukturen und Einrichtungen westeuropäischer Staaten - außer BRD -" zuständig.

Auf eine "Anfrage der HA XX" zur Person "Dr. Gysi, Gregor" vom 16. September 1980 (Dok. Nr. 92) vermerkt die HVA/XI: "Oben genannte Person wurde von unserer DE unter der Registratur A/OPK 2185 gesperrt im Archiv der HV A abgelegt. Gegen eine erneute Erfassung bestehen seitens unserer DE keine Einwände." In einem "Vorschlag zur Werbung eines IMS" der "Hauptabteilung XX/OG" vom 27. November 1980 (Dok. Nr. 118) wird zur Erfassung Dr. Gysis bei der HVA folgendes ausgeführt: "Zum Zeitpunkt des Bekanntwerdens war er für die HVA, Abt. XI, positiv erfaßt und wurde von 1975-1977 im Zusammenhang mit der Überprüfung eines Vorgangs aus dem Operationsgebiet für die Legende eines juristischen Beraters genutzt." Der Bundesbeauftragte führt aus, bei der HVA habe die Kategorisierung inoffiziell genutzter Personen in einer Operativen Personenkontrolle, anders als im Abwehrbereich, der herrschenden Praxis entsprochen.

Eine OPK-Registrierung bei der HVA habe sich weitgehend auch auf IM-Kandidaten bezogen (BStU, Gutachterliche Stellungnahme, S. 31).

Abg. Dr. Gysi bestreitet eine inoffizielle Zusammenarbeit mit der HVA, wofür auch seine A/OPK-Registrierung bei der HVA spreche. Er meint, die Eröffnung eines IM-Vorlaufs bei der HA XX zur Prüfung seiner Eignung als IM im Jahre 1980 schließe eine vorherige inoffizielle Tätigkeit als IM bei der HVA aus. Bei Annahme einer IM-Tätigkeit für die HVA hätte nur eine Übergabe an die HA XX erfolgen müssen und im Jahre 1980 kein IM-Vorlauf für ihn angelegt werden müssen. Der Abg. Dr. Gysi legt hierzu ein Schreiben des ehemaligen MfS-Offiziers Schmidt vom 6. April 1997 vor (Schreiben vom 17. April 1997, Anlage 1). Hierin wird unter anderem ausgeführt, daß Operative Personenkontrollen bei der HVA keine inoffizielle Tätigkeit für das MfS belegen könnten.

Aufgrund der vorliegenden Dokumente ist der 1. Ausschuß - entgegen dem Vortrag des Abg. Dr. Gysi - davon überzeugt, daß Dr. Gysi in den Jahren von 1975 bis 1977 inoffiziell mit der HVA/XI des MfS zusammengearbeitet hat. Zwar konnte die HVA im Zeitraum vom Frühjahr bis Sommer 1990 ihr operatives Schriftgut in eigener Zuständigkeit nahezu vollständig vernichten oder verbringen (BStU, Gutachterliche Stellungnahme, S. 31). Die aufgefundenen Dokumente belegen jedoch hinreichend, daß Dr. Gysi von 1975 bis 1978 positiv in einer OPK der HVA erfaßt war und bis Ende 1977 in die operative Arbeit der HVA eingebunden war. In einem Sachstandsbericht der HVA/XI vom 17. Februar 1978 wird ausdrücklich ausgeführt, daß Dr. Gysi im Jahre 1975 im Zusammenhang mit der Überprüfung eines Vorgangs aus dem Operationsgebiet der HVA/XI für die Legende eines juristischen Beraters inoffiziell zur Zusammenarbeit gewonnen wurde. Hiernach wurde Dr. Gysi bis zum Ende des Jahres 1977 operativ genutzt. Laut Sachstandsbericht der HVA/XI hat Dr. Gysi die ihm gestellten operativen Aufgaben "umsichtig und parteilich" gelöst. Da der Bericht vom 17. Februar 1978 ein interner Sachstandsbericht ist, geht der 1. Ausschuß angesichts der strengen Kontrollmechanismen innerhalb des MfS (siehe dazu oben unter Ziffer 4.1) davon aus, daß die inoffizielle Zusammenarbeit Dr. Gysis mit der HVA/XI zutreffend dargestellt wird. Bestätigt wird dieses durch den Suchauftrag vom 6. Februar 1978, aus dem die enge Zusammenarbeit Dr. Gysis mit der HVA/XI hervorgeht.

Auch die vorliegenden Unterlagen aus dem Jahre 1980 (Dok. 92, 118) dokumentieren die Erfassung und Tätigkeit Gregor Gysis bei der HVA.

Dieses erscheint um so sicherer, als Dr. Gysi einerseits im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit für die HVA eine umsichtige und parteiliche Erfüllung der ihm gestellten operativen Aufgaben bescheinigt wird, während andererseits mit Bezug auf die HA XX/1, der Dr. Gysi während seiner Erfassung bei der HVA für kurze Zeit zur Verfügung gestellt wurde, eine inoffizielle Zusammenarbeit nicht in Betracht gezogen wurde. Das im Bericht vom 17. Februar 1978 dokumentierte fehlende Interesse der HA XX/1 an einer weiteren inoffiziellen Zusammenarbeit mit Dr. Gysi bewertet der 1. Ausschuß - wie bereits unter Ziffer 6.1.1 ausgeführt wurde - als auf die konkrete Aufgabe der Erstellung einer Rechtsanwaltsanalyse im DDR-Maßstab bezogen. Eine spätere inoffizielle Zusammenarbeit Gregor Gysis mit anderen Einheiten der HA XX in anderen Zusammenhängen wurde damit nicht ausgeschlossen.

Da die Erfassung in einer Operativen Personenkontrolle bei der HVA nach Mitteilung des Bundesbeauftragten, anders als im Abwehrbereich, der dort herrschenden Praxis zur Kategorisierung inoffiziell genutzter Personen entsprochen hat, steht zur Überzeugung des 1. Ausschusses fest, daß Dr. Gysi in den Jahren 1975 bis 1977 inoffiziell mit der HVA des MfS im Sinne der Feststellungskriterien zusammengearbeitet hat.

7.2 Erfassung in einem Sicherungsvorgang der BV Berlin

7.2.1 Formale Erfassung bei der Abt. XX/1 BV Berlin

Im Anschluß an die inoffizielle Zusammenarbeit mit der HVA wurde Dr. Gysi in einem Sicherungsvorgang der für das Rechtsanwaltskollegium Berlin zuständigen Abteilung XX/1 der Bezirksverwaltung (BV) Berlin des MfS erfaßt. Über dieses Erfassungsverhältnis liegt lediglich ein Dokument aus der zu Dr. Gysi im Jahre 1980 angelegten IM-Vorlauf-Akte vor (Dok. Nr. 91). In einem Sicherungsvorgang bei der BV Berlin wurden nach Mitteilung des Bundesbeauftragten alle Mitglieder des Rechtsanwaltskollegiums Berlin erfaßt, sofern sie nicht in einem anderen Erfassungsverhältnis standen. Die Erfassung Dr. Gysis in diesem Sicherungsvorgang wurde am 22. September 1980 zugunsten der HA XX/OG gelöscht, wobei gleichzeitig von der Abteilung XX/1 der BV Berlin eine nicht näher bestimmbare Akte an die HA XX/OG übergeben wurde (BStU, Ergänzender Bericht, S. 8 f.).

7.2.2 Tatsächliche Zusammenarbeit mit der HA XX/OG

Wie bereits oben unter Ziffern 6.1, 6.2 und 6.4 dargelegt wurde, hat Dr. Gysi nach der Aktenlage während seiner Erfassung in einem Sicherungsvorgang der BV Berlin und damit bereits vor seiner formellen Erfassung im IM-Vorlauf "Gregor" im Rahmen der anwaltlichen Vertretung Rudolf Bahros, Robert Havemanns und Franz Dötterls inoffiziell mit der HA XX/ OG zusammengearbeitet. Nach den vorliegenden Dokumenten hat Dr. Gysi mit Bezug auf Rudolf Bahro mindestens seit September 1978 bis Ende 1979, mit Bezug auf Robert Havemann seit Ende 1979 und über Franz Dötterl 1979 und 1980 Berichte und Angaben an die HA XX des MfS geliefert. Da Dr. Gysi in dieser Zeit in einem Sicherungsvorgang der Abteilung XX/1 der BV Berlin erfaßt war, lag die operative Verantwortlichkeit für ihn eigentlich bei dieser Dienststelle des MfS. Nach Mitteilung des Bundesbeauftragten bedurfte die inoffizielle Zusammenarbeit der HA XX/ OG mit Dr. Gysi deshalb der vorherigen Abstimmung mit der Abteilung XX/1 der BV Berlin als der zuständigen Diensteinheit (BStU, Ergänzender Bericht, S. 14). Ohne deren Billigung hätte es diese Zusammenarbeit nicht geben dürfen. Hinweise auf eine Abstimmung hat der Bundesbeauftragte allerdings nicht aufgefunden. Der Bundesbeauftragte hat aber ausgeführt, daß nach seinen Erfahrungen eine solche Abstimmung nicht formgebunden gewesen war und auch mündlich erfolgen konnte.

Ob die an sich erforderliche Abstimmung zwischen der Abteilung XX/1 der BV Berlin und der HA XX/ OG bezüglich der Nutzung Dr. Gysis durch die HA XX/OG stattgefunden hat, läßt sich anhand der vorliegenden Dokumente nicht nachvollziehen. Nach Ansicht des 1. Ausschusses kann dieses im Ergebnis jedoch offen bleiben, da Dr. Gysi über seine Mandanten Rudolf Bahro, Robert Havemann und Franz Dötterl tatsächlich in diesem Zeitraum an die HA XX Berichte und Angaben geliefert hat, seine Mandanten im Interesse des MfS beeinflußte und dem MfS eigene Vorschläge unterbreitete. Damit hat sich Dr. Gysi insbesondere in die Kontroll- und Überwachungsmechanismen der HA XX/OG des MfS gegenüber seinen Mandanten Rudolf Bahro und Robert Havemann einbinden lassen. Ansprechpartner für Dr. Gysi bei der HA XX/OG waren nach der Aktenlage die MfS-Offiziere Lohr und Reuter. Die Zusammenarbeit Dr. Gysis mit der HA XX/OG war angesichts der regelmäßig in der Wohnung Dr. Gysis durchgeführten Gespräche, obwohl er noch in einem Sicherungsvorgang der Abteilung XX/1 der BV Berlin des MfS erfaßt war, kontinuierlich.

Nach Ansicht des 1. Ausschusses verdeutlicht dieses den inoffiziellen Charakter der Zusammenarbeit zwischen der HA XX/OG des MfS und Dr. Gysi bereits vor dessen formeller Erfassung in einem IM-Vorlauf bei der HA XX/OG im Jahre 1980. Die Einlassung des Abg. Dr. Gysi, daß er nicht als IM registriert worden war und auch kein handschriftlicher oder wenigstens von ihm unterzeichneter Bericht vorliege (Schreiben vom 9. August 1995), trägt deshalb nicht.

Hierbei muß ohnehin berücksichtigt werden, daß eine förmliche Verpflichtung seitens des MfS nicht vorgesehen war, sondern lediglich die mündliche Verpflichtung Dr. Gysis (vgl. Dok. Nr. 91). Auch die in anderen Zusammenhängen dargestellte Feststellung in einem Sachstandsbericht der HVA vom 17. Februar 1978 (Dok. Nr. 115), daß die Hauptabteilung XX nicht an einer inoffiziellen Zusammenarbeit mit Gysi interessiert gewesen sei, da er ungeeignet erscheine, wirkt nicht entlastend. Wie bereits ausgeführt wurde, wurde diese Feststellung mit Bezug auf einen besonderen Einsatz Dr. Gysis bei der HA XX/1 getroffen und schließt eine anderweitige Verwendung durch andere Einheiten bei der HA XX/OG nicht aus. Die Kontinuität der inoffiziellen Zusammenarbeit der HA XX/OG mit Dr. Gysi ab 1978 wird auch dadurch bestätigt, daß - wie die Darstellung der Mandatsverhältnisse Rudolf Bahro und Robert Havemann unter Ziffern 6.1 und 6.2 ergeben hat - für Dr. Gysi der Deckname "Gregor" verwendet wurde.

Dieser Deckname findet sich in den vorliegenden Unterlagen - mit zwei Ausnahmen - nur bis zur Erfassung Dr. Gysis im IM-Vorlauf. Eine Ausnahme bildet lediglich ein Eintrag im persönlichen Aufzeichnungsbuch des MfS-Offiziers Lohr vom 31. März 1981 (Dok. Nr. 82) und ein handschriftlicher Eintrag in einer "Information" der "Hauptabteilung XX" vom 16. April 1982 (Dok. Nr. 248) im Zusammenhang mit der Beisetzung von Robert Havemann, wobei sich der Zeitpunkt des handschriftlichen Eintrags "IM Gregor" aus dem Dokument allerdings nicht sicher bestimmen läßt. Auch in einer Aufstellung der Abteilung XII des MfS vom 16. Juli 1984 an die HA XX zu nicht abgeschlossenen IM-Vorlauf-Vorgängen und in der darauf gefertigten Rückmeldung der HA XX/9 findet sich der Deckname "Gregor" (Dok. Nr. 120).

Der Deckname "Gregor" wird mit den Kategorien "IM-Vorl.", "GMS" oder "IM" verknüpft.

Als Indiz für die inoffizielle Zusammenarbeit Dr. Gysis mit der HA XX/OG bereits während der Erfassung in einem Sicherungsvorgang der BV Berlin liegt außerdem eine "Auszahlungs-Anordnung für Operativgelder " der HA XX/OG vom 28. Dezember 1979 vor (Dok. Nr. 131). Das MfS verstand unter Operativgeldern finanzielle Mittel, die im Rahmen der Rekrutierung und des Einsatzes von IM sowie zur Organisation von Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen benötigt und eingesetzt worden sind. Nach einer von Minister Mielke erlassenen Operativgeldordnung war die Ausgabe von Operativgeld exakt nachzuweisen und abzurechnen.5) Der Verwendungszweck von Operativgeld wurde von einem System interner Sachkonten- und Untersachkontennummern bestimmt, für deren sachlich richtige Benutzung die Leiter der Diensteinheiten verantwortlich waren.

Grundsätzlich erfolgte der Nachweis von Operativgeldausgaben unter Angabe der Registriernummer, anhand der eine eindeutige Zuordnung der beanspruchten Konten für eine bestimmte Person möglich gewesen war (BStU, Ergänzender Bericht, S. 19 ff., Tabelle S. 22). In der Auszahlungs-Anordnung vom 28. Dezember 1979 wird als Zweckbestimmung "Präsent Jahreswechsel" angegeben. Nach Mitteilung des Bundesbeauftragten war es üblich, daß inoffiziellen Mitarbeitern zum Jahreswechsel Präsente überreicht worden sind. Unter Kategorie bzw. Deckname wird Deckname "GMS Gregor" angeführt; unter "An (Empfänger)" wird "Maj. Lohr" genannt. Die Verbuchung sollte auf dem "Sachkonto 6000" erfolgen, das nach Auskunft des Bundesbeauftragten die Zweckbestimmung "Zuwendungen an IM und GMS" hatte (BStU, Gutachterliche Stellungnahme, S. 26).

Im Ergebnis steht zur Überzeugung des 1. Ausschusses fest, daß Dr. Gysi zumindest seit September 1978 während seiner Erfassung in einem Sicherungsvorgang der Abteilung XX/1 der BV Berlin des MfS mit der HA XX des MfS inoffiziell zusammengearbeitet hat. Die Auswertung von MfS-Unterlagen zu Rudolf Bahro, Robert Havemann und Franz Dötterl hat ergeben, daß Gregor Gysi während seiner Erfassung im Sicherungsvorgang der BV Berlin entsprechend den Feststellungskriterien des 1. Ausschusses inoffiziell mit der HA XX/OG des MfS zusammengearbeitet hat.

7.3 Erfassung durch die HA XX/OG, der späteren HA XX/9

Dr. Gysi war für die HA XX/9 bzw. HA XX/OG vom 28. Oktober 1980 bis zum Ende des MfS ununterbrochen aktiv erfaßt. Das bedeutet, für ihn war in diesem Zeitraum ein und dieselbe Diensteinheit "operativ verantwortlich". Persönlich verantwortlich waren in diesem gesamten Zeitraum nur die MfS-Offiziere Lohr und Reuter.

Dr. Gysi war vom 28. Oktober 1980 bis zum 17. September 1986 von der HA XX/9 des MfS in einem IM-Vorlauf mit dem Decknamen "Gregor" erfaßt. Für eine IM-Tätigkeit Gregor Gysis war der Deckname "Notar" vorgesehen. Dieser IM-Vorlauf wurde 1986 gesperrt archiviert. Am Tag nach der Archivierung des IM-Vorlaufs, am 18. September 1986, wurde Gregor Gysi in einem Vorgang der Operativen Personenkontrolle (OPK) mit dem Decknamen "Sputnik" erneut aktiv erfaßt. Diese OPK wurde bis zum Ende der DDR weitergeführt.

Die HA XX/9 war im gesamten Zeitraum der Erfassung Gregor Gysis "operativ verantwortlich". Die operative Verantwortlichkeit der für die Bearbeitung des politischen Untergrunds zuständigen Abteilung 9 der Hauptabteilung XX bedeutete, daß im gesamten Zeitraum der aktiven Erfassung Gregor Gysis durch die HA XX/9 andere Diensteinheiten des MfS gehindert waren, ohne Genehmigung der HA XX/9 Kontakt zu Gregor Gysi aufzunehmen. Denn nach den internen Regeln des MfS mußte eine Diensteinheit, wenn sie mit einer bestimmten Person zusammenarbeiten wollte, förmlich bei der Abteilung XII des MfS (Auskunft, Archiv, Registriernachweis) nachfragen, ob diese von einer anderen Diensteinheit aktiv erfaßt war. Soweit dies der Fall war, mußte sie erst deren Genehmigung einholen, um mit der entsprechenden Person Kontakt aufnehmen zu können.

Der damit einhergehende Schutz des jeweiligen IM durch die operativ verantwortliche Arbeitseinheit des MfS konnte auch nach Beendigung der Zusammenarbeit fortgeführt werden, in dem die Akte "gesperrt " archiviert wurde, wie dies mit dem IM-Vorlauf "Gregor" geschehen ist. Auch in diesem Fall galt das oben dargestellte Verfahren.

Die HA XX/9 war ausschließlich für den politischen Untergrund der DDR zuständig, im Justizbereich hatte sie keinerlei Sicherungsaufgaben zu lösen. Damit war nach den Prinzipien der Arbeitsteilung im MfS und der Diensteinheiten bezogenen Verantwortlichkeit ausgeschlossen, daß Dr. Gysi mit der HA XX/9 in irgendeiner Form offiziell zusammenarbeiten konnte. Dieser Diensteinheit kamen keinerlei strafprozessuale Kompetenzen zu. Im Rahmen von durch das MfS eingeleiteten Ermittlungsverfahren, wie z.B. bei Rudolf Bahro, konnte ein Strafverteidiger, wie Dr. Gysi, nur mit dem "Untersuchungsorgan " des MfS, der HA IX, offiziell zusammenarbeiten.

Nur die HA IX bzw. die entsprechenden Abteilungen auf Bezirksebene durften strafprozessuale Maßnahmen einleiten bzw. durchführen.

Außerhalb von derartigen Ermittlungsverfahren oder Strafprozessen war eine offizielle Zusammenarbeit des MfS mit Rechtsanwälten bzw. der Staatsanwaltschaft der DDR nur möglich, wenn eine Zuständigkeit für die "politisch operative Sicherung" gegeben war. Hierfür zuständig war die Hauptabteilung XX, jedoch nicht die Abteilung XX/9, sondern ausschließlich die Abteilung XX/1.

Allgemein bleibt jedoch in diesem Zusammenhang festzuhalten, daß für Dr. Gysi als Rechtsanwalt - auch im Rahmen einer offiziellen Zusammenarbeit mit der HA IX - keinerlei Veranlassung oder Verpflichtung bestand, Aufträge vom MfS entgegennehmen zu müssen. Dafür blieb nur Raum bei einer inoffiziellen Zusammenarbeit.

7.3.1 Erfassung im IM-Vorlauf "Gregor"

Vom 28. Oktober 1980 bis zum 17. September 1986 war Dr. Gysi unter der Registriernummer XV/5647/80 von der HA XX/OG, der späteren HA XX/9 des MfS in einem IM-Vorlauf mit dem Decknamen "Gregor" erfaßt. Die vom MfS im Jahre 1986 archivierte IM-Vorlauf- Akte (Dok. Nr. 91 ff.) liegt dem 1. Ausschuß vor. Die IM-Vorlauf-Akte selbst enthält in dem Zustand, wie sie vom MfS archiviert worden ist, keine Unterlagen, die auf eine inoffizielle Tätigkeit mit Dr. Gysi zurückgehen (BStU, Ergänzender Bericht, S. 9).

Die Erfassung Dr. Gysis wurde durch einen "Beschluß" der HA XX/OG des MfS vom 18. September 1980 "über das Anlegen eines IM-Vorlaufes" eingeleitet. In dem in diesem Beschluß enthaltenen "Index über Personen" wird Dr. Gysi als einzige Person namentlich genannt. Als "vorläufiger Deckname" wurde Dr. Gysi der Deckname "Gregor" zugeordnet. Vorgesehene "IM-Kategorie" war "IMS".6) Im Beschluß über das Anlegen eines IM-Vorlaufes war für den späteren IM-Vorgang der Deckname "Notar" für Dr. Gysi vorgesehen. Der Beschluß wurde vom MfSOffizier Reuter bestätigt; als "Mitarbeiter" wird in dem Beschluß "Lohr" angegeben. Die Erfassung durch die "Abt. XII" des MfS erfolgte am 28. Oktober 1980. Eine schriftliche Verpflichtungserklärung von Dr. Gysi liegt nicht vor.

Kurze Zeit nach der Eröffnung des IM-Vorlaufs "Gregor " liegt mit Datum vom 27. November 1980 ein "Vorschlag zur Werbung eines IMS, entsprechend der Richtlinie 1/79" des MfS-Offiziers Lohr der HA XX vor (Dok. Nr. 118). Der Werbungsvorschlag, der kurze Zeit nach der Erfassung Dr. Gysis im IM-Vorlauf "Gregor" entstand, ist in der zu Dr. Gysi geführten IM-Vorlauf-Akte enthalten und bezieht sich im Klarnamen auf "Gysi, Gregor". In dem Werbungsvorschlag heißt es: "Bekanntwerden des Kandidaten: Der Kandidat wurde 1978 während der operativen Bearbeitung des OV "Konzeption" bekannt, als er in Vorbereitung des Prozesses gegen Bahro, Rudolf, den Rechtsbeistand übernahm." Weiterhin wird im Hinblick auf die "Geplante Einsatzrichtung und operative Notwendigkeit der Werbung" ausgeführt: "Durch seine Tätigkeit als Rechtsanwalt vertritt der Kandidat Mandanten, die operativ interessant sind, teilweise in Vorgängen und OPK durch unsere DE bearbeitet werden bzw. anderweitig operativ angefallen sind. So bewies er in der bisherigen Zusammenarbeit Zuverlässigkeit und eine hohe Einsatzbereitschaft, als er den Rechtsbeistand im Prozeß gegen Bahro übernahm und im Verfahren gegen Robert Havemann wegen Verstoßes gegen das Devisengesetz unter strenger Einhaltung der Konspiration über geplante Aktivitäten, über das weitere Vorgehen von Verbindungspersonen, Ziele und Absichten, über die Rechtslage und ihre Folgen, berichtete."

Zum "Plan der Werbung und Art der Verpflichtung " heißt es: "Im Interesse der Einhaltung der Konspiration und der politisch operativen Notwendigkeit wurden dem Kandidaten bereits im Rahmen der Vorbereitung und Durchführung des Bahro-Prozesses die Aufgaben des MfS eingehend erläutert. Auf Grund der beruflichen Tätigkeit und der politischen Zuverlässigkeit erkannte der Kandidat schon damals die Notwendigkeit einer inoffiziellen Zusammenarbeit und Einhaltung der Konspiration. Dies bewies er durch die Übergabe operativ auswertbarer Informationen, seiner Einsatzbereitschaft und der durchgeführten Aufgaben. Es ist deshalb vorgesehen beim nächsten Treff und im Rahmen der ihm zu erteilenden Aufträge unter besonderer Beachtung der sich verschärfenden Klassenkampfsituation, dem Kandidaten nochmals die Bedeutung der Zusammenarbeit aufzuzeigen. Der Kandidat soll mündlich durch Handschlag, verpflichtet werden und den Decknamen "Notar" erhalten." Nach der Aktenlage wurde der Werbungsvorschlag weder bestätigt noch ausdrücklich abgelehnt.

Die IM-Vorlauf-Akte zu Dr. Gysi wurde von der HA XX/9 sechs Jahre geführt und am 17. September 1986 ordnungsgemäß archiviert (BStU, Ergänzender Bericht, S. 9). Im Abschlußbericht des MfS-Offiziers Lohr vom 13. August 1986 (Dok. Nr. 119) wird dazu ausgeführt: "Obwohl der Kandidat in der ersten Zeit der mit ihm geführten Gespräche über die oben angeführten Personen [Anm.: Rudolf Bahro und Robert Havemann] Informationen über Verhaltensweisen und geplante Aktivitäten übergab, war festzustellen, daß er an seiner Schweigepflicht als Rechtsanwalt festhält. Von dieser Haltung war auch die Zusammenarbeit geprägt. Es muß eingeschätzt werden, daß Hinweise zu Personen und Sachverhalten allgemeingültigen Charakter trugen, die, wie sich nach Überprüfung herausstellte, größtenteils auch offiziell erlangt werden konnten. (..) Aufgrund der beruflichen Stellung des Kandidaten ist auch künftig eine ersprießliche und konkrete Zusammenarbeit seitens des Kandidaten nicht zu erwarten. Es wird deshalb vorgeschlagen, die IM-Vorlauf-Akte in der Abteilung XII des MfS gesperrt abzulegen." Im Beschluß über die Archivierung des IM-Vorlaufes" vom 14. August 1986 (Dok. Nr. 91), der vom MfS-Offizier Reuter unterzeichnet ist, wird dementsprechend die gesperrte Ablage des Vorgangs verfügt. Zur Begründung der Archivierung des IM-Vorlaufs heißt es: "Die Möglichkeiten des Kandidaten zu einer inoffiziellen Zusammenarbeit sind auf Grund der beruflichen Tätigkeit begrenzt. Er ist daher zur Aufklärung und Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit nicht geeignet". Die Ablage des Vorgangs wurde unter dem 17. September 1986 bestätigt (Dok. Nr. 91).

Aus der Zeit der Erfassung Dr. Gysis im IM-Vorlauf "Gregor" liegen neun Operativgeldabrechnungen bzw. Auszahlungs-Anordnungen für Operativgelder aus den Jahren 1981 bis 1985 vor (Dok. Nr. 131, 90). Hierin wird als Deckname "IMS Notar" bzw. "Notar" und die Registriernummer XV/5647/80 des zu Dr. Gysi angelegten IM-Vorlaufs angegeben. Als Zweckbestimmungen werden im wesentlichen "Präsent", "Präsent anläßlich Geburtstag" und "operative Auslagen " genannt. Unter "Empfänger" wird in den Auszahlungs-Anordnungen für Operativgelder überwiegend der MfS-Offizier Lohr angegeben. Verbuchungskonto sollte grundsätzlich das Untersachkonto 6000 sein, das - wie bereits ausgeführt wurde - die Zweckbestimmung "Zuwendungen an IM und GMS" hatte. Im Falle einer "Auszahlungs-Anordnung " vom 18. Dezember 1981 (Dok. Nr. 131) erfolgte die Buchung auf dem Untersachkonto 6021, welches für Nahrungs- und Genußmittel in konspirativen Wohnungen bzw. konspirativen Objekten vorgesehen war (BStU, Ergänzender Bericht, S. 21). Die vorliegenden Finanzunterlagen wurden von den MfS-Offizieren Reuter und Lohr unterschrieben bzw. quittiert. Nach Mitteilung des Bundesbeauftragten entsprach die Anfertigung der überwiegenden Zahl der vorliegenden Operativgeldbelege entweder in der zweiten Dezemberhälfte oder in der zweiten Januarhälfte einer im MfS üblichen Praxis, inoffiziellen Mitarbeitern anläßlich des Jahreswechsels und zu deren Geburtstagen - Dr. Gysi wurde am 16. Januar 1948 geboren - Präsente zu überreichen. Der Abg. Dr. Gysi bestreitet, Präsente vom MfS erhalten zu haben.

Eine von ihm unterzeichnete Quittung, auf der er den Erhalt von Geld oder Präsenten bestätigt habe, liege nicht vor. Vorstellbar sei jedoch, daß im Zusammenhang mit der Nutzung von Quellen aus seiner Umgebung oder im Rahmen der Operativen Personenkontrolle Kosten entstanden seien. Ebenso halte er es für denkbar, daß ihm Dritte, die im Auftrag des MfS Kontakt zu ihm gehalten hätten, zu Weihnachten oder zu seinem Geburtstag auf Kosten des MfS Präsente überreicht hätten. Der Bundesbeauftragte hat hinsichtlich der sechsjährigen Laufzeit des IM-Vorlaufs ausgeführt, daß eine derart lange Laufzeit für einen IM-Vorlauf unüblich gewesen sei und nicht der üblicherweise praktizierten zielstrebigen Aufklärung und Überprüfung der IM-Kandidaten entsprach (BStU, Gutachterliche Stellungnahme, S. 31 ff.). Entsprechend war auch dem MfS im Rahmen einer "zentralen Revision zu IM-Vorläufen" bereits im Jahre 1984 die lange Laufzeit des IM-Vorlaufes zu Dr. Gysi aufgefallen. Ausweislich eines von der HA XX/9 zu den in ihrem Bereich aufgefallenen unerledigten IM-Vorlauf-Vorgängen erstellten Dokuments wurde zum IM-Vorlauf "Gregor" vermerkt, daß die Erfassung entsprechend einer Absprache mit dem Leiter der HA XX, Generalmajor Kienberg, vorerst nicht verändert wird (Dok. Nr. 120).

Nach Überzeugung des 1. Ausschusses spiegelt die Erfassung Gregor Gysis im IM-Vorlauf "Gregor" von 1980 bis 1986 nicht das wahre Verhältnis Dr. Gysis zur HA XX des MfS wider. Zwar diente die Erfassung in einem IM-Vorlauf grundsätzlich dazu, die betreffende Person auf ihre Fähigkeit und Bereitschaft zu überprüfen, für das MfS von einem bestimmten Zeitpunkt an als inoffizieller Mitarbeiter tätig zu sein, Informationen zu liefern sowie ggf. Einfluß im Sinne des MfS auf Personen und Vorgänge zu nehmen (vgl. BStU, Gutachterliche Stellungnahme, S. 35). Im Verhältnis zu Gregor Gysi spielte dieses nach Auffassung des 1. Ausschusses jedoch allenfalls eine untergeordnete Rolle. Dieses wird insbesondere durch den Werbungsvorschlag der HA XX/OG vom 27. November 1980 dokumentiert. Der bereits kurz nach der Eröffnung des IM-Vorlaufs vorgelegte Werbungsvorschlag des MfS-Offiziers Lohr belegt nach Überzeugung des 1. Ausschusses, daß zum einen bereits vor der Eröffnung des IM-Vorlaufs insbesondere im Zusammenhang mit dem Prozeß gegen Rudolf Bahro und dem Verfahren gegen Robert Havemann - als Dr. Gysi noch in einem Sicherungsvorgang der BV Berlin erfaßt war - eine inoffizielle Zusammenarbeit zwischen der HA XX/OG und Dr. Gysi stattgefunden hat. Dieses erklärt auch, daß der Werbungsvorschlag bereits kurz nach der Eröffnung des IM-Vorlaufs "Gregor" vom MfS-Offizier Lohr vorgelegt werden konnte. Zudem verdeutlicht der Werbungsvorschlag den Charakter der Zusammenarbeit Gregor Gysis mit der HA XX/OG. Dieser vermerkt mit Bezug auf die Zusammenarbeit mit Dr. Gysi ausdrücklich dessen Zuverlässigkeit und eine hohe Einsatzbereitschaft.

Nach dem Werbungsvorschlag berichtete Dr. Gysi im Verfahren gegen Robert Havemann unter strenger Einhaltung der Konspiration über geplante Aktivitäten, über das weitere Vorgehen von Verbindungspersonen, Ziele und Absichten, über die Rechtslage und ihre Folgen. Wie der Werbungsvorschlag ausführt, wurden Dr. Gysi schon im Rahmen des Bahro-Prozesses die Aufgaben des MfS eingehend erläutert. Er erkannte danach die Notwendigkeit einer inoffiziellen Zusammenarbeit und die Einhaltung der Konspiration. Der 1. Ausschuß bewertet den Werbungsvorschlag vom 27. November 1980 aufgrund der vorliegenden MfS-Dokumente zu Rudolf Bahro und Robert Havemann aus den Jahren 1978 bis 1980 und der strengen internen Kontrollmechanismen des MfS als inhaltlich zutreffend.

Unter Berücksichtigung dieses Werbungsvorschlages und weiterer während der Zeit der Erfassung Gregor Gysis im IM-Vorlauf "Gregor" aufgefundener Unterlagen ist der 1. Ausschuß davon überzeugt, daß Dr. Gysi ungeachtet der formellen Eröffnung des IM-Vorlaufs im Oktober 1980 die bereits vorher im Jahre 1978 aufgenommene Zusammenarbeit mit der HA XX/OG bzw. HA XX/9 unverändert fortgesetzt hat. Unter den Ziffern 6.2, 6.8 und 6.11 wurde dieses für die anwaltliche Vertretung Robert Havemanns, Gerd und Ulrike Poppes sowie den Empfang im Ermlerhaus sicher nachgewiesen. Grundsätzlich wurde für Gregor Gysi in diesem Zusammenhang der im Eröffnungsbeschluß des IM-Vorlaufs vorgesehene Deckname "Notar" benutzt.

Einen weiteren Anhaltspunkt für die inoffizielle Zusammenarbeit stellen die aufgefundenen Finanzbelege dar, nach denen mehrfach zum Jahreswechsel und zum Geburtstag Zuwendungen an Dr. Gysi verbucht wurden. Nach Auffassung des 1. Ausschusses belegt das Vorhandensein der Finanzbelege allerdings nicht mit letzter Sicherheit, daß Dr. Gysi die Geschenke von der HA XX tatsächlich erhalten hat.

Die Gesamtumstände der vorliegenden Belege und die überwiegende Verbuchung auf dem Unterkonto 6000 deuten jedoch darauf hin, daß das ausgezahlte Operativgeld im Zusammenhang mit einer inoffiziellen Tätigkeit Dr. Gysis für die HA/XX 9 des MfS stand.

Auch die unüblich lange Laufzeit des IM-Vorlaufs deutet darauf hin, daß der IM-Vorlauf nicht vorrangig der Prüfung des IM-Kandidaten Dr. Gysi diente, sondern der HA XX/OG bzw. HA XX/9 das Zugriffsrecht auf Dr. Gysi für eine inoffizielle Zusammenarbeit sichern sollte. Das MfS, dem die lange Laufzeit bewußt war, setzte bewußt dennoch den IM-Vorlauf fort. Daß die HA XX/9 sich auch weiterhin den alleinigen Zugriff auf Dr. Gysi sichern wollte, wird auch durch die unmittelbar nach Archivierung des IM-Vorlaufs erfolgte Eröffnung der OPK "Sputnik" sowie die gesperrte Ablage des IM-Vorlaufs dokumentiert.

Der Hinweis des MS-Offiziers Lohr im Abschlußbericht anläßlich der Archivierung des IM-Vorlaufs, daß eine "ersprießliche und konkrete Zusammenarbeit" mit Dr. Gysi nicht zu erwarten sei und Dr. Gysi an seiner Schweigepflicht als Rechtsanwalt festhält, vermag Dr. Gysi nicht zu entlasten. Zumindest in den oben dargelegten Fällen hat Dr. Gysi Berichte und Angaben über seine Mandanten an das MfS geliefert.

Insgesamt steht zur Überzeugung des 1. Ausschusses fest, daß Dr. Gysi nach Eröffnung des IM-Vorlaufs "Gregor" im Jahre 1980 die bereits im Jahre 1978 begonnene Zusammenarbeit mit der HA XX/OG bzw. HA XX/9 unverändert fortgesetzt hat und Informationen über seine Mandanten an das MfS lieferte.

7.3.2 Erfassung in der OPK "Sputnik"

Am 18. September 1986, also am Tag nach der Archivierung des IM-Vorlaufs "Gregor", wurde Dr. Gysi in einem Vorgang der Operativen Personenkontrolle (OPK) der HA XX/9 mit dem Decknamen "Sputnik" und der Registriernummer XV 4628/86 erneut aktiv erfaßt (Dok. Nr. 125, 272). Der Deckname "Sputnik" ist ausschließlich Dr. Gysi zugeordnet. Die OPK-Akte "Sputnik" hat der Bundesbeauftragte nicht aufgefunden. Es wurden jedoch Durchschläge oder Zweitschriften von Teilen daraus und Karteikarten mit Verweisen auf sie aufgefunden (BStU, Ergänzender Bericht, S. 10).

Im Bereich der HA XX stellte eine Operative Personenkontrolle, anders als bei der HVA, grundsätzlich formell eine operative Bearbeitung von Personen dar. Dieses war in einer formgebundenen Akte zu dokumentieren. Das Wörterbuch der Staatssicherheit (a.a.O., S. 271 f.) nennt unter dem Stichwort "Operative Personenkontrolle (OPK)" drei "Politisch-operative Zielstellungen der OPK". Hierbei handelt es sich um die "Erarbeitung des Verdachts der Begehung von Verbrechen gemäß erstem oder zweitem Teil des StGB - Besonderer Teil - oder einer Straftat der allgemeinen Kriminalität (..)", das "Erkennen von Personen mit feindlich-negativer Einstellung bzw. operativ bedeutsamen Verbindungen und Kontakten, (..), sowie das rechtzeitige Verhindern bzw. Einschränken ihres entsprechenden Wirksamwerdens" und letztens die "vorbeugende Sicherung von Personen, die in sicherheitspolitisch besonders bedeutsamen Positionen oder Bereichen tätig sind oder tätig werden sollen und bei denen aufgrund vorhandener Ansatzpunkte die Gefahr eines Mißbrauchs durch den Gegner besteht und damit das rechtzeitige Erkennen und die wirksame Bekämpfung feindlicher Angriffe bzw. feindlichnegativer Handlungen durch diese Personen".

Im Eröffnungsbericht der "Hauptabteilung XX/9" zur OPK "Sputnik" vom 1. September 1986 (Dok. Nr. 121), der vom MfS-Offizier Lohr unterzeichnet wurde, wird mit Bezug auf Dr. Gysi ausgeführt: "Die angeführte positive Einschätzung steht im Widerspruch zu den inoffiziellen und offiziellen Aufklärungsergebnissen. Die OPK wird deshalb mit folgender Zielsetzung bearbeitet: 1. Umfassende Aufklärung der Person und seines Umgangskreises im beruflichen und Freizeitbereich. (..) 2. Klärung des Charakters der Beziehungen zu seinen Klienten (..) 3. Aufklärung der Verbindungen zu Personen aus dem NSW, besonders zu den in der DDR akkreditierten Korrespondenten und Mitarbeitern der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR. (..) In Abstimmung mit der HA II/12 und 13 sind die Kontakte nach einer möglichen geheimdienstlichen Tätigkeit aufzuklären und entsprechende Maßnahmen einzuleiten". Im Ergänzungsbericht der HA XX/9 vom 19. September 1986 (Dok. Nr. 122) wird dazu ausgeführt: "Die im Eröffnungsbericht der OPK festgelegten Maßnahmen sind zielstrebig durchzuführen und erste Ergebnisse der Aufklärung des Charakters der Verbindungen zu angeführtem Personenkreis sowie die Einleitung von Koordinierungsmaßnahmen mit den angeführten Diensteinheiten zu realisieren".

Aus der Zeit der Erfassung Dr. Gysis in der OPK "Sputnik" liegen dem 1. Ausschuß fünf Belege über Operativgeldabrechnungen mit den Datumsangaben "20.01.87", "22. 12. 87", "21.12.88", "28. 1. 88" und "17.1.89" vor (Dok. Nr. 90). Diese geben in der Rubrik "Deckname bzw. Verwendungszweck" den Decknamen "Sputnik" sowie die Registriernummer XV/4628/86 an (Dok. Nr. 90). Vier dieser Belege enthalten den Verwendungszweck "Präsent". Verbuchungskonto war in allen Fällen das Untersachkonto 6000, auf dem Zuwendungen an IM und GMS verbucht wurden. In allen Belegen wird die Registriernummer XV/4628/86 sowie in der Rubrik "Angehöriger " OSL Lohr angeführt. Daneben liegt noch eine Jahresliste für 1987 vor, in der Operativkosten für "Sputnik" verbucht worden sind (Dok. Nr. 132).

Weiterhin liegen dem 1. Ausschuß bezogen auf Gregor Gysi vier Avisierungen7) aus den Jahren 1988 und 1989 vor (Dok. Nr. 283, 284, 291, 292). Durch diese Avisierungen wurde Dr. Gysi der Grenzübertritt erheblich erleichtert, obwohl er zu dieser Zeit in der OPK "Sputnik" erfaßt war. Ab März 1989 konnte Dr. Gysi die DDR ohne Einschränkungen jederzeit über festgelegte Grenzübergangsstellen verlassen oder wiedereinreisen (Dok. Nr. 292). Das läßt sich nur schwer mit einer gegen Dr. Gysi gerichteten OPK in Einklang bringen.

Dem 1. Ausschuß liegt eine Tonbandabschrift der "Hauptabteilung XX/9" vom 3. Mai 1988 über einen "Vermerk über eine Rücksprache zwischen Rechtsanwalt Dr. Gysi und Herrn Wollenberger am 28.4.1988" vor (Dok. Nr. 276). Die Tonbandabschrift, die im Zusammenhang mit der Verhaftung von Vera Wollenberger und ihrer Ausreise aus der DDR im Februar 1988 steht, gibt als Quelle "Sputnik" an. Die Tonbandabschrift enthält den Vermerk: "entgegengenommen: OSL Lohr am 29.4.1988"; am Ende heißt es: "gez. IM". Weitere Dokumente aus dieser Zeit betreffen, wie unter Ziffer 6.10 ausgeführt wurde, Bärbel Bohley.

Der Bundesbeauftragte hat aber auch einen Auszug aus einem Ordner mit dem Titel "Personenverzeichn. Maßn. 26-A" (Dok. Nr. 125) u. a: mit Daten vom "7.4.1986" und "13.3.1987" vorgelegt, der den Namen Dr. Gysis enthält. Nach Auskunft des Bundesbeauftragten bedeutet eine "Maßnahme 26-A" eine Telefonkontrolle (BStU, Gutachterliche Stellungnahme, S. 13). Als Dok. Nr. 274 und 290 liegen Kopien von an Dr. Gysi gerichteten Briefen und Postkarten aus den Jahren 1987 und 1989 vor, die vom MfS kontrolliert worden sind. Weiterhin liegt ein Bericht der Quelle IMB "R. Zenker" vom 3. September 1987 über Dr. Gysi vor, der allerdings nicht von der HA XX/9 stammt (Dok. Nr. 124).

Abg. Dr. Gysi vertritt die Auffassung, daß gegen ihn eine Operative Personenkontrolle mit umfangreichen Kontrollmaßnahmen durchgeführt worden sei. Er habe hiervon zum damaligen Zeitpunkt keine Kenntnis gehabt. Es gebe Anhaltspunkte dafür, daß seine Post kontrolliert und Telefongespräche abgehört worden seien. Hinsichtlich des Maßnahmeplans auf Dok. Nr. 88 erklärt Abg. Dr. Gysi, er könne nicht "Sputnik" sein, weil er zum damaligen Zeitpunkt keinen persönlichen Kontakt zu Werner Fischer gehabt habe. Zur Tonbandabschrift vom 3. Mai 1988 (Dok. Nr. 276) bestreitet er, die darin enthaltenen Informationen dem MfS mitgeteilt zu haben. Außerdem habe er keine Präsente vom MfS erhalten. Abg. Dr. Gysi bezieht sich auf eine von ihm vorgelegte schriftliche Stellungnahme des ehemaligen MfS-Offiziers Schmidt vom 6. April 1997 (Schreibenvom17. April 1997, Anlage 1).

Nach Ansicht des 1. Ausschusses ergibt sich für die Zeit der Erfassung Dr. Gysis in der OPK "Sputnik" ein differenziertes Bild hinsichtlich einer möglichen Zusammenarbeit mit der HA XX/9 des MfS. In erster Linie diente eine Operative Personenkontrolle bei der HA XX der Aufklärung einer Person und seines Umgangskreises. Diesem Anliegen entspricht der Eröffnungsbericht zur OPK "Sputnik" und der dazu gehörende Ergänzungsbericht. Allerdings schließt die formelle Eröffnung einer OPK nach Auskunft des Bundesbeauftragten eine inoffizielle Tätigkeit für die HA XX des MfS nicht von vornherein aus. Insoweit seien Fälle der Verschleierung des tatsächlichen Erfassungsverhältnisses bei der Bekämpfung des politischen Untergrundes vorgekommen (BStU, Gutachterliche Stellungnahme, S. 39).

Hierfür spricht auch die Definition der Operativen Personenkontrolle im Wörterbuch der Staatssicherheit, nach der eine OPK auch der vorbeugenden Sicherung von Personen in sicherheitspolitisch bedeutsamen Positionen und Bereichen diente.

Anhaltspunkte für eine auch während der Erfassung Dr. Gysis in der OPK "Sputnik" fortbestehende Zusammenarbeit mit der HA XX/9 sind die Bezeichnung Dr. Gysis in internen Informationen der für ihn zuständigen MfS-Offizieren und in Einsatzplänen als IM. Auch die aufgefundenen Finanzbelege, die darauf hindeuten, daß Dr. Gysi zum Jahreswechsel und seinem Geburtstag am 16. Januar während der Erfassung in einer OPK "Sputnik" Präsente und Geschenke von der Hauptabteilung XX/9 erhalten hatte, sprechen hierfür, da nach Mitteilung des Bundesbeauftragten Personen, die in einer OPK operativ bearbeitet worden sind, nach seinen Erfahrungen vom MfS keine Präsente erhalten hätten. Weiterhin sprechen die Avisierungen zugunsten von Dr. Gysi in den Jahren 1988 und 1989 dafür, daß die Durchführung einer OPK gegen Dr. Gysi nicht sein tatsächliches Verhältnis zum MfS widerspiegelte.

In der Eröffnung der OPK "Sputnik" fehlte außerdem der sonst übliche Hinweis auf eine bisherige Registrierung Dr. Gysis als IM oder IM-Vorlauf sowie der Bezug auf die bisherige Zusammenarbeit (vgl. BStU, Gutachterliche Stellungnahme, S. 39). Die kurze Zeitspanne zwischen der Archivierung des IM-Vorlaufs "Gregor" und der Erfassung in der OPK "Sputnik " verdeutlicht zudem die Absicht der HA XX/9, Dr. Gysi weiterhin aktiv zu erfassen. Dadurch wurde das alleinige Recht der HA XX/9 gesichert, zu Dr. Gysi Kontakt zu halten. Mit der Archivierung der IM-Vorlaufakte "Gregor" bestand die Gefahr, daß die HA XX/9 vom Zeitpunkt der Archivierung an nicht mehr die alleinige Verfügung über Dr. Gysi behalten hätte (BStU, Gutachterliche Stellungnahme, S. 39).

Hinweise auf eine weiterhin bestehende Zusammenarbeit Dr. Gysis mit der HA XX/9 sind auch die Bezugnahme auf IM "Sputnik" in einem Fragment eines Maßnahmeplans (Dok. Nr. 88) zu Bärbel Bohley und Werner Fischer und die Tonbandabschrift der HA XX/9 vom 3. Mai 1988 über ein Gespräch zwischen Dr. Gysi und Herrn Wollenberger am 28. April 1988 mit der Quellenangabe "Sputnik" und die Zeichnung des Vermerkes mit "gez. IM".

Im Ergebnis vermag der 1. Ausschuß sich keine abschlie ßende Klarheit zu verschaffen, ob Dr. Gysi während seiner Erfassung in der OPK "Sputnik" inoffiziell für die HA XX/9 des MfS tätig gewesen ist. Zugunsten des Abg. Dr. Gysi geht der 1. Ausschuß - auch weil die entsprechende OPK-Akte nicht aufgefunden wurde - davon aus, daß eine Zusammenarbeit Dr. Gysis mit der HA XX/9 des MfS während seiner Erfassung in der OPK "Sputnik" als nicht erwiesen anzusehen ist.

8. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

Der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (1. Ausschuß) hat im Prüfungsverfahren gemäß § 44b Abs. 2 AbgG eine inoffizielle Tätigkeit des Abg. Dr. Gregor Gysi für das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik als erwiesen festgestellt.

Der 1. Ausschuß ist nach sorgfältiger Prüfung und Bewertung der beim Bundesbeauftragten aufgefundenen Dokumente und der zahlreichen Stellungnahmen des Abg. Gysi, zu der Überzeugung gekommen, daß Dr. Gysi in der Zeit von 1975 bis 1989 in verschiedenen Erfassungsverhältnissen beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) aktiv erfaßt war. Dr. Gysi hat in dieser Zeit nachweislich bis 1986 unter verschiedenen Decknamen dem MfS inoffiziell zugearbeitet.

Zunächst ist von 1975 bis 1977 eine Zusammenarbeit zwischen Dr. Gysi und der für Auslandsspionage zuständigen Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des MfS belegt. Obwohl die Unterlagen der HVA fast vollständig vernichtet wurden, konnte diese inoffizielle Zusammenarbeit von Dr. Gysi anhand anderer Unterlagen belegt werden. So charakterisiert ein Sachstandsbericht der HVA/Abt. XI vom 17. Februar 1978, der in der im Jahre 1980 zu Dr. Gysi angelegten IM-Vorlaufakte "Gregor" der Hauptabteilung XX/9 aufgefunden wurde, die Zusammenarbeit Dr. Gysis mit der HVA wie folgt: "Gregor Gysi ist als OPK-Vorgang (..) registriert. G. wurde 1975 im Zusammenhang mit der Überprüfung eines Vorgangs aus dem Operationsgebiet für die Legende eines juristischen Beraters inoffiziell zur Zusammenarbeit gewonnen (..). Die ihm gestellten Aufgaben hat er umsichtig und parteilich gelöst." Dieser interne Vermerk stellt nach der Überzeugung des 1. Ausschusses die tatsächlichen Beziehungen zwischen Dr. Gysi und der HVA korrekt dar.

Nach der Beendigung der inoffiziellen Zusammenarbeit mit der HVA arbeitete Dr. Gysi ab 1978 mit der für die Bekämpfung der politischen Opposition zuständigen Hauptabteilung XX/OG, der späteren HA XX/9 des MfS inoffiziell zusammen. Nach Überzeugung des 1. Ausschusses dauerte diese inoffizielle Zusammenarbeit zumindest bis 1986 an.

Die Zusammenarbeit Dr. Gysis mit der HA XX/OG erfolgte ab 1978 ungeachtet des Erfassungsverhältnisses, in dem Dr. Gysi beim MfS stand. Sowohl während seiner Erfassung in dem für die Berliner Rechtsanwälte üblichen Sicherungsverfahren bei der zuständigen auf Bezirksebene agierenden Abteilung des MfS bis Oktober 1980 als auch während in der Erfassung in einem IM-Vorlauf-Vorgang "Gregor" bei der HA XX von 1980 bis 1986 erfolgte eine ungebrochene inoffizielle Zusammenarbeit zwischen Dr. Gysi und der HA XX/ OG bzw. HA XX/9 des MfS. Die für Dr. Gysi von 1978 bis 1989 allein zuständigen MfS-Offiziere Lohr und Reuter verwendeten während der Zeit der inoffiziellen Zusammenarbeit für Gregor Gysi die Decknamen "Gregor" und "Notar" sowie die IM-Kategorien GMS (Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit), IMV (IM-Vorlauf), IMS (Inoffizieller Mitarbeiter für Sicherheit) und IM nebeneinander und in verschiedenen Kombinationen. Dem Ausschuß liegen keinerlei Erkenntnisse oder verwertbare Erklärungen vor, daß die verwendeten Decknamen möglicherweise anderen Personen als Dr. Gysi zugeordnet waren. Die der Überzeugung des 1. Ausschusses zugrundeliegenden inoffiziellen Informationen stammen weder aus technischen Quellen noch können sie als Sammlung von Informationen aus verschiedenen Quellen angesehen werden. So fehlen beispielsweise die Signaturen der für Abhörmaßnahmen zuständigen Abteilung des MfS oder die üblichen Kennzeichnungen für Sammelinformationen, in der alle beteiligten Quellen einzeln aufgeführt werden. Der 1. Ausschuß kommt daher nach Überprüfung aller vorgelegten Quellen zu dem Ergebnis, daß diese Entlastungsargumente des Abg. Dr.Gysi als in jeder Hinsicht widerlegt anzusehen sind.
Dr. Gysi hat nach Überzeugung des Ausschusses seine Anwaltstätigkeit für Robert Havemann, Rudolf Bahro, Franz Dötterl sowie Gerd und Ulrike Poppe dazu benutzt, um im Rahmen seiner inoffiziellen Zusammenarbeit dem MfS Informationen über seine Mandanten zu liefern und Arbeitsaufträge des MfS auszuführen. Die Überprüfung der verschiedenen Mandatsverhältnisse hat in jedemder genannten Fälle ergeben, daß Rechtsanwalt Dr. Gysi personenbezogene Informationen, Einschätzungen und Bewertungen zu seinen Mandanten an dasMfS weitergegeben hat. Darüber hinaus hat Dr. Gysi dem MfS durch einen Bericht über das Gespräch mit einem Spiegel-Korrespondenten anläßlich eines Empfangs im Ermlerhaus in Ostberlin 1986 wichtige Informationen zukommen lassen. Im Zusammenhang mit der Anwaltstätigkeit von Dr. Gysi für Robert Havemann und Rudolf Bahro hat der 1. Ausschuß jeweils in mehreren konkreten Einzelfällen die inoffizielle Zusammenarbeit von Dr. Gysi mit dem MfS nachweisen können. Die vom Abg. Dr. Gysi vorgetragene Erklärung, wonach er ausschließlich mit dem ZK der SED Kontakt gehabt habe, ist als nicht stichhaltige Schutzbehauptung widerlegt.

Aus den vorliegenden MfS-Unterlagen ergeben sich zudem erhebliche Anhaltspunkte dafür, daß Dr. Gysi auch über andere Mandanten, wie z.B. Bärbel Bohley und Katja Havemann personenbezogene Informationen an die HA XX des MfS geliefert hat. Die hierzu vorliegenden MfS-Unterlagen deuten auf eine Zusammenarbeit von Dr. Gysi mit dem MfS auch nach seiner Erfassung in einer Operativen Personenkontrolle (OPK) "Sputnik" im September 1986 hin. Wegen der Besonderheiten des Überprüfungsverfahrens gemäß § 44b des AbgG und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die hohe Beweisanforderungen bei gleichzeitiger Beschränkung der Beweismittel auf Dokumente des MfS und die Stellungnahmen des Betroffenen vorsehen, sieht der 1. Ausschuß davon ab, insoweit eine Feststellung zu treffen. Hinsichtlich der Erfassung Dr. Gysis in der Operativen Personenkontrolle "Sputnik " von Ende 1986 bis zum Ende der DDR enthält sich der 1. Ausschuß angesichts der spärlichen Aktenfunde einer abschließenden Wertung.

Der 1. Ausschuß hält nach Überprüfung der ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen auch die Einlassung für zweifelsfrei widerlegt, daß Dr. Gysi nichts von den verschiedenen Erfassungsverhältnissen gewußt haben will. Nach den Unterlagen steht fest, daß Dr. Gysi sich mit dem ihm zugeordneten Mitarbeitern des MfS Reuter und Lohr in seiner eigenen und anderen Wohnungen getroffen hat.

Zur Überzeugung des 1. Ausschusses steht fest: Dr. Gregor Gysi hat in der Zeit seiner inoffiziellen Tätigkeit Anweisungen seiner Führungsoffiziere über die Beeinflussung seiner Mandanten ausgeführt und über die Erfüllung seiner Arbeitsaufträge berichtet.

Er hat sich hierauf nicht beschränkt, sondern auch eigene Vorschläge an das MfS herangetragen. Dr. Gysi hat seine herausgehobene berufliche Stellung als einer der wenigen Rechtsanwälte in der DDR genutzt, um als Anwalt auch international bekannter Oppositioneller die politische Ordnung der DDR vor seinen Mandanten zu schützen. Um dieses Ziel zu erreichen, hat er sich in die Strategien des MfS einbinden lassen, selbst an der operativen Bearbeitung von Oppositionellen teilgenommen und wichtige Informationen an das MfS weitergegeben. Auf diese Erkenntnisse war der Staatssicherheitsdienst zur Vorbereitung seiner Zersetzungsstrategien dringend angewiesen.

Das Ziel dieser Tätigkeit unter Einbindung von Dr. Gysi war die möglichst wirksame Unterdrückung der demokratischen Opposition in der DDR.

Bonn, den 8. Mai 1998 Dieter Wiefelspütz (Vorsitzender)

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5) Beispielhaft liegt dem 1. Ausschuß zur Behandlung von Operativgeld die Ordnung Nr. 3/83 "über die Planung, Verwendung, Nachweisführung, Abrechnung und Kontrolle finanzieller Mittel für politisch-operative Zwecke (Operativgeld) im Ministerium für Staatssicherheit - Operativgeldordnung -" in der Fassung vom 15. April 1983 einschließlich dazu erlassenener Durchführungsbestimmungen vor.

6) IMS = Inoffizieller Mitarbeiter zur politisch-operativen Durchdringung und Sicherung des Verantwortungsbereiches;.vgl. Suckut (Hrsg.), Das Wörterbuch der Staatssicherheit, S. 198.

7) Avisierungen im sogenannten grenzüberschreitenden Verkehr sind Festlegungen oder Veranlassungen von Maßnahmen, welche die Paßkontrolleinheiten des MfS in Abweichung des üblichen Kontrollverfahrens beim Passieren der Grenze durch bestimmte Personen durchzusetzen hatten.
Avisierungen konnten etwa eine völlige Befreiung von Kontrollen beinhalten (vgl. BStU, Ergänzender Bericht, S. 25 mit FN 66) teilt zu haben.

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Dieses Dokument wurde zuletzt aktualisiert am 22.06.06
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